Der Zauberberg
Zorn ihm nicht mehr zu, als sei er zum Tadel nicht so recht frei, sondern mitschuldig an dem Ärgernis und mitverantwortlich dafür vor den anderen, – kurzum, er schämte sich, und zwar wäre es ungenau gewesen, zu sagen, daß er sich für Frau Chauchat schämte, sondern ganz persönlich schämte er sich vor den Leuten, – was er sich übrigens hätte sparen können, da niemand im Saale sich um Frau Chauchats Laster noch um Hans Castorps Scham darüber kümmerte, ausgenommen etwa die Lehrerin, Fräulein Engelhart, zu seiner Rechten.
{207} Das kümmerliche Wesen hatte begriffen, daß dank Hans Castorps Empfindlichkeit gegen das Türenwerfen eine gewisse affekthafte Beziehung des jungen Tischnachbarn zu der Russin entstanden war, ferner, daß es wenig auf den Charakter einer solchen Beziehung ankomme, wenn sie nur überhaupt vorhanden war, und endlich, daß seine geheuchelte – und zwar aus Mangel an schauspielerischer Übung und Begabung sehr schlecht geheuchelte – Gleichgültigkeit keine Abschwächung, sondern eine Verstärkung, eine höhere Phase des Verhältnisses bedeutete. Ohne Anspruch und Hoffnung für ihre eigene Person, erging Fräulein Engelhart sich beständig in selbstlos entzückten Reden über Frau Chauchat, – wobei das Merkwürdige war, daß Hans Castorp ihr hetzerisches Betreiben, wenn nicht sofort, so doch auf die Dauer, vollkommen klar erkannte und durchschaute, ja, daß es ihn sogar anwiderte, ohne daß er sich darum weniger willig hätte davon beeinflussen und betören lassen.
»Pardauz!« sagte das alte Mädchen. »Das ist
sie.
Man braucht nicht aufzusehen, um sich zu überzeugen, wer da hereingekommen ist. Natürlich, da geht sie, – und wie reizend sie geht, – ganz wie ein Kätzchen zur Milchschüssel schleicht! Ich wollte, wir könnten die Plätze tauschen, damit Sie sie so ungezwungen und bequem betrachten könnten, wie ich es kann. Ich verstehe es ja, daß Sie nicht immer den Kopf nach ihr drehen mögen, – Gott weiß, was sie sich schließlich einbilden würde, wenn sie es merkte … Jetzt sagt sie ihren Leuten Guten Tag … Sie sollten doch einmal hinsehen, es ist so erquickend, sie zu beobachten. Wenn sie so lächelt und spricht wie jetzt, bekommt sie ein Grübchen in die eine Wange, aber nicht immer, nur wenn sie will. Ja, das ist ein Goldkind von einer Frau, ein verzogenes Geschöpf, daher ist sie so lässig. Solche Menschen muß man lieben, ob man will oder nicht, denn wenn sie einen ärgern durch ihre Lässigkeit, so ist auch der Ärger nur ein Anreiz mehr, {208} ihnen zugetan zu sein, es ist so beglückend, sich zu ärgern und dennoch lieben zu müssen …«
So raunte die Lehrerin hinter der Hand und ungehört von den anderen, während die flaumige Röte auf ihren Altjungferwangen an ihre übernormale Körpertemperatur erinnerte; und ihre wollüstigen Redereien gingen dem armen Hans Castorp in Mark und Blut. Eine gewisse Unselbständigkeit schuf ihm das Bedürfnis, von dritter Seite bestätigt zu erhalten, daß Madame Chauchat eine entzückende Frau sei, und außerdem wünschte der junge Mann, sich von außen zur Hingabe an Empfindungen ermutigen zu lassen, denen seine Vernunft und sein Gewissen störende Widerstände entgegensetzten.
Übrigens erwiesen sich diese Unterhaltungen in sachlicher Beziehung nur wenig fruchtbar, denn Fräulein Engelhart wußte beim besten Willen nichts Näheres über Frau Chauchat auszusagen, nicht mehr als jedermann im Sanatorium; sie kannte sie nicht, konnte sich nicht einmal einer Bekanntschaft rühmen, die sie mit ihr gemeinsam gehabt hätte, und das einzige, womit sie sich vor Hans Castorp ein Ansehen geben konnte, war, daß sie in Königsberg – also nicht gar so sehr weit von der russischen Grenze – zu Hause war und einige Brocken Russisch kannte, – dürftige Eigenschaften, in denen Hans Castorp aber etwas wie weitläufige persönliche Beziehungen zu Frau Chauchat zu sehen bereit war.
»Sie trägt keinen Ring,« sagte er, »keinen Ehering, wie ich sehe. Wie ist denn das? Sie ist doch eine verheiratete Frau, haben Sie mir gesagt?«
Die Lehrerin geriet in Verlegenheit, als sei sie in die Enge getrieben und müsse sich herausreden, so sehr verantwortlich fühlte sie sich für Frau Chauchat Hans Castorp gegenüber.
»Das dürfen Sie nicht so genau nehmen«, sagte sie. »Zuverlässig ist sie verheiratet. Daran ist kein Zweifel möglich. Daß sie sich Madame nennt, geschieht nicht nur der größeren Ansehn {209}
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