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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Wasserlauf oder ins Englische Viertel, ein wenig Ruhe im Stuhl. Das war keine ernste Unterbrechung, kein schwer zu nehmendes Hindernis. Etwas anderes, wenn Arbeit, irgendwelche Sorgen und Mühen sich vorgelagert hätten, die im Geiste nicht leicht zu übersehen, zu übergehen gewesen wären. Dies war jedoch nicht der Fall im klug und glücklich geregelten Leben des »Berghofs«. Hans Castorp konnte sich, wenn er von einer gemeinsamen Mahlzeit aufstand, ganz unmittelbar auf die nächste freuen, – sofern nämlich »sich freuen« das richtige Wort war für die Art von Erwartung, mit der er dem neuen Zusam {214} mensein mit der kranken Frau Clawdia Chauchat entgegensah, und nicht ein zu leichtes, vergnügtes, einfältiges und gewöhnliches. Möglicherweise ist der Leser geneigt, nur solche Ausdrücke, nämlich vergnügte und gewöhnliche, in bezug auf Hans Castorps Person und sein Innenleben als passend und zulässig zu erachten; aber wir erinnern daran, daß er sich als ein junger Mann von Vernunft und Gewissen auf den Anblick und die Nähe Frau Chauchats nicht einfach »freuen« konnte und, da wir es wissen müssen, stellen wir fest, daß er dies Wort, wenn man es ihm angeboten hätte, achselzuckend verworfen haben würde.
    Ja, er wurde hochnäsig gegen gewisse Ausdrucksmittel, – das ist eine Einzelheit, die angemerkt zu werden verdient. Er ging umher, indes seine Wangen in trockener Hitze standen, und sang vor sich hin, sang in sich hinein, denn sein Befinden war musikalisch und sensitiv. Er summte ein Liedchen, das er, wer weiß wo und wann, in einer Gesellschaft oder bei einem Wohltätigkeitskonzert einmal von einer kleinen Sopranstimme gehört und jetzt in sich vorgefunden hatte, – einen sanften Unsinn, der anfing:
    »Wie berührt mich wundersam
    Oft ein Wort von dir«,
    und er war im Begriffe, hinzuzusetzen:
    »Das von deiner Lippe kam
    Und zum Herzen mir!« –
    als er plötzlich die Achseln zuckte, »lächerlich« sagte und das zarte Liedchen als abgeschmackt und läppisch empfindsam verwarf und von sich wies, – es mit einer gewissen Melancholie und Strenge von sich wies. An solchem innigen Liedchen mochte irgendein junger Mann Genüge und Gefallen finden, der »sein Herz«, wie man zu sagen pflegt, erlaubter-, friedlicher- {215} und aussichtsreicherweise irgendeinem gesunden Gänschen dort unten im Flachlande »geschenkt« hatte und sich nun seinen erlaubten, aussichtsreichen, vernünftigen und im Grunde vergnügten Empfindungen überließ. Für ihn und sein Verhältnis zu Madame Chauchat – das Wort »Verhältnis« kommt auf seine Rechnung, wir lehnen die Verantwortung dafür ab – schickte sich ein solches Gedichtchen entschieden nicht; in seinem Liegestuhl fand er sich bewogen, das ästhetische Urteil »albern!« darüber zu fällen und brach in der Mitte ab, indem er die Nase rümpfte, obgleich er nichts Geeigneteres dafür einzusetzen wußte.
    Eins aber bereitete ihm Genugtuung, wenn er lag und auf sein Herz, sein körperliches Herz achtete, das rasch und vernehmlich in der Stille pochte, – der vorschriftsmäßigen Hausordnungsstille, die während der Haupt- und Schlafliegekur über dem ganzen »Berghof« waltete. Es pochte hartnäckig und vordringlich, sein Herz, wie es das fast beständig tat, seitdem er hier oben war; doch nahm Hans Castorp neuerdings weniger Anstoß daran als in den ersten Tagen. Man konnte jetzt nicht mehr sagen, daß es auf eigene Hand, grundlos und ohne Zusammenhang mit der Seele klopfte. Ein solcher Zusammenhang war vorhanden oder doch unschwer herzustellen; eine rechtfertigende Gemütsbewegung ließ sich der exaltierten Körpertätigkeit zwanglos unterlegen. Hans Castorp brauchte nur an Frau Chauchat zu denken – und er dachte an sie –, so besaß er zum Herzklopfen das zugehörige Gefühl.

Aufsteigende Angst.
Von den beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht
    Das Wetter war spottschlecht, – in dieser Beziehung hatte Hans Castorp kein Glück mit seinem flüchtigen Aufenthalt in diesen Gegenden. Es schneite nicht gerade, aber es regnete tagelang {216} schwer und häßlich, dicke Nebel erfüllten das Tal, und Gewitter von lächerlicher Überflüssigkeit – denn es war ohnehin so kalt, daß man im Speisesaal sogar geheizt hatte – entluden sich mit umständlich ausrollendem Widerhall.
    »Schade«, sagte Joachim. »Ich hatte gedacht, wir wollten mal mit dem Frühstück auf die Schatzalp oder sonst etwas unternehmen. Aber es scheint, es soll

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