Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
sicher war, daß seine Helfershelferin diese dreiste Verdrehung gelten und sich gefallen lassen werde, so war nichts damit gewagt.
    »Guten Morgen!« sagte er. »Haben Sie wohl geruht? Ich hoffe, Sie haben von Ihrer schönen Minka geträumt? … Nein, wie Sie gleich rot werden, wenn man sie nur erwähnt! Ganz vernarrt sind Sie in sie, das leugnen Sie nur lieber nicht!«
    Und die Lehrerin, die wirklich errötet war und sich tief über ihre Tasse beugte, raunte aus ihrem linken Mundwinkel:
    »Aber nein, pfui, Herr Castorp! Das ist nicht schön von Ihnen, daß Sie mich so in Verlegenheit bringen mit Ihren Anspielungen. Alle merken es ja, daß wir es auf sie abgesehen haben, und daß Sie mir Dinge sagen, über die ich rot werden muß …«
    Es war sonderbar, was die beiden Tischnachbarn da trieben. Beide wußten, daß sie doppelt und dreifach logen, daß Hans Castorp nur, um von Frau Chauchat sprechen zu können, die Lehrerin mit ihr neckte, dabei aber ein ungesundes und übertragenes Vergnügen darin fand, mit dem alten Mädchen zu schäkern, – welches ihrerseits darauf einging: erstens aus kupplerischen Gründen, dann auch, weil sie sich dem jungen Manne zu Gefallen wohl wirklich etwas in Frau Chauchat vergafft hatte, und endlich, weil sie es kümmerlich genoß, sich irgend {212} wie von ihm necken und rot machen zu lassen. Dies wußten sie beide von sich und vom anderen und wußten auch, daß jeder es von sich und vom anderen wisse, und das alles war verwickelt und unsauber. Aber obgleich Hans Castorp von verwickelten und unsauberen Dingen im ganzen angewidert wurde und sich auch in diesem Falle davon angewidert fühlte, so fuhr er doch fort, in dem trüben Elemente zu plätschern, indem er sich zur Beruhigung sagte, daß er ja nur zu Besuch hier oben sei und demnächst wieder abreisen werde. Mit erkünstelter Sachlichkeit beurteilte er kennerhaft das Äußere der »lässigen« Frau, stellte fest, daß sie von vorn gesehen entschieden jünger und hübscher wirke als im Profil, daß ihre Augen zu weit auseinander lägen und ihre Haltung viel zu wünschen übriglasse, wofür allerdings ihre Arme schön und »weich geformt« seien. Und indem er dies sagte, suchte er das Zittern seines Kopfes zu verbergen, wobei er aber nicht nur erkennen mußte, daß die Lehrerin seine vergebliche Anstrengung bemerkte, sondern auch mit dem größten Widerwillen die Wahrnehmung machte, daß sie selber ebenfalls mit dem Kopfe zitterte. Auch war es nichts als Politik und unnatürliche Schlauheit gewesen, daß er Frau Chauchat als »schöne Minka« bezeichnet hatte; denn so konnte er weiter fragen:
    »Ich sage ›Minka‹, aber wie heißt sie denn eigentlich in Wirklichkeit. Ich meine mit Vornamen. So vernarrt, wie Sie unstreitig in sie sind, müssen Sie doch unbedingt ihren Vornamen wissen.«
    Die Lehrerin dachte nach.
    »Warten Sie, ich weiß ihn«, sagte sie. »Ich habe ihn gewußt. Heißt sie nicht Tatjana? Nein, das war es nicht, und auch nicht Natascha. Natascha Chauchat? Nein, so habe ichs nicht gehört. Halt, ich habe es! Awdotja heißt sie. Oder es war doch etwas in diesem Charakter. Denn Katjenka oder Ninotschka heißt sie nun einmal bestimmt nicht. Es ist mir wahrhaftig entfallen. {213} Aber ich kann es mit Leichtigkeit in Erfahrung bringen, wenn Ihnen daran gelegen ist.«
    Wirklich wußte sie am nächsten Tage den Namen. Sie sprach ihn beim Mittagessen aus, als die Glastür ins Schloß schmetterte. Frau Chauchat hieß Clawdia.
    Hans Castorp verstand nicht gleich. Er ließ sich den Namen wiederholen und buchstabieren, bevor er ihn auffaßte. Dann sprach er ihn mehrmals nach, indem er dabei mit rot geäderten Augen zu Frau Chauchat hinüberblickte und ihn ihr gewissermaßen anprobierte.
    »Clawdia,« sagte er, »ja, so mag sie wohl heißen, es stimmt ganz gut.« Er machte kein Hehl aus seiner Freude über die intime Kenntnis und sprach jetzt nur noch von »Clawdia«, wenn er Frau Chauchat meinte. »Ihre Clawdia dreht ja Brotkugeln, habe ich eben gesehen. Fein ist das nicht.« »Es kommt darauf an, wer es tut«, antwortete die Lehrerin. »Clawdia steht es.«
    Ja, die Mahlzeiten im Saal mit den sieben Tischen hatten den allergrößten Reiz für Hans Castorp. Er bedauerte es, wenn eine davon zu Ende ging, aber sein Trost war, daß er sehr bald, in zwei oder zweieinhalb Stunden, wieder hier sitzen werde, und wenn er wieder hier saß, so war es, als sei er nie aufgestanden. Was lag dazwischen? Nichts. Ein kurzer Spaziergang zum

Weitere Kostenlose Bücher