Der Zauberberg
nicht sein. Hoffentlich wird deine letzte Woche besser.«
Aber Hans Castorp antwortete:
»Laß nur. Ich brenne gar nicht auf Unternehmungen. Meine erste ist mir nicht sonderlich bekommen. Ich erhole mich am besten, wenn ich so in den Tag hineinlebe, ohne viel Abwechslung. Abwechslung ist für die Langjährigen. Aber ich mit meinen drei Wochen, was brauche ich Abwechslung.«
So war es, er fühlte sich ausgefüllt und beschäftigt an Ort und Stelle. Wenn er Hoffnungen hegte, so blühten Erfüllung wie Enttäuschung ihm hier, und nicht auf irgendeiner Schatzalp. Langeweile war es nicht, was ihn plagte; im Gegenteil begann er zu fürchten, das Ende seines Aufenthalts möchte allzu beschwingt erscheinen. Die zweite Woche schritt vor, zwei Drittel seiner Zeit würden bald abgelebt sein, und brach erst das dritte an, so dachte man schon an den Koffer. Die erste Auffrischung von Hans Castorps Zeitsinn war längst vorbei; schon begannen die Tage dahinzufliegen, und das taten sie, obgleich jeder einzelne von ihnen sich in immer erneuter Erwartung dehnte und von stillen, verschwiegenen Erlebnissen schwoll … Ja, die Zeit ist ein rätselhaftes Ding, es hat eine schwer klarzustellende Bewandtnis mit ihr!
Wird es nötig sein, jene verschwiegenen Erlebnisse, die Hans Castorps Tage zugleich beschwerten und beschwingten, näher zu kennzeichnen? Aber jedermann kennt sie, es waren durchaus die gewöhnlichen in ihrer sensiblen Nichtigkeit, und in einem vernünftiger und aussichtsreicher gelagerten Fall, auf {217} den das abgeschmackte Liedchen »Wie berührt mich wundersam« anwendbar gewesen wäre, hätten sie sich auch nicht anders abspielen können.
Unmöglich, daß Madame Chauchat von den Fäden, die sich von einem gewissen Tische zu ihrem spannen, nicht irgend etwas hätte bemerken sollen; und daß sie etwas, ja möglichst viel davon bemerke, lag zügelloserweise durchaus in Hans Castorps Absichten. Wir nennen das zügellos, weil er sich über die Vernunftwidrigkeit seines Falles völlig im klaren war. Aber um wen es steht, wie es um ihn stand oder zu stehen begann, der will, daß man drüben von seinem Zustande Kenntnis habe, auch wenn kein Sinn und Verstand bei der Sache ist. So ist der Mensch.
Nachdem also Frau Chauchat sich zwei- oder dreimal zufällig oder unter magnetischer Einwirkung beim Essen nach jenem Tisch umgewandt hatte und jedesmal den Augen Hans Castorps begegnet war, blickte sie zum viertenmal mit Vorbedacht hinüber und begegnete seinen Augen auch diesmal. In einem fünften Fall ertappte sie ihn zwar nicht unmittelbar; er war gerade nicht auf dem Posten. Doch fühlte er es sofort, daß sie ihn ansah, und blickte ihr so eifrig entgegen, daß sie sich lächelnd abwandte. Mißtrauen und Entzücken erfüllten ihn angesichts dieses Lächelns. Wenn sie ihn für kindlich hielt, so täuschte sie sich. Sein Bedürfnis nach Verfeinerung war bedeutend. Bei sechster Gelegenheit, als er ahnte, spürte, die innere Kunde gewann, daß sie herüberblickte, tat er, als betrachte er mit eindringlichem Mißfallen eine finnige Dame, die an seinen Tisch getreten war, um mit der Großtante zu plaudern, hielt eisern durch, wohl zwei oder drei Minuten lang, und gab nicht nach, bis er sicher war, daß die Kirgisenaugen dort drüben von ihm abgelassen hatten, – eine wunderliche Schauspielerei, die Frau Chauchat nicht nur durchschauen mochte, sondern ausdrücklich durchschauen
sollte
, damit Hans Castorps große {218} Feinheit und Selbstbeherrschung sie nachdenklich stimme … Es kam zu folgendem. In einer Eßpause wandte Frau Chauchat sich nachlässig um und musterte den Saal. Hans Castorp war auf dem Posten gewesen: ihre Blicke trafen sich. Indes sie einander ansehen – die Kranke unbestimmt spähend und spöttisch, Hans Castorp mit erregter Festigkeit (er biß sogar die Zähne zusammen, während er ihren Augen standhielt) – will ihr die Serviette entfallen, ist im Begriffe, ihr vom Schoße zu Boden zu gleiten. Nervös zusammenzuckend greift sie danach, aber auch ihm fährt es in die Glieder, es reißt ihn halbwegs vom Stuhle empor, und blindlings will er über acht Meter Raum hinweg und um einen zwischenstehenden Tisch herum ihr zu Hilfe stürzen, als würde es eine Katastrophe bedeuten, wenn die Serviette den Boden erreichte … Knapp über dem Estrich wird sie ihrer noch habhaft. Aber aus ihrer gebückten Haltung, überquer zu Boden geneigt, die Serviette am Zipfel und mit verfinsterter Miene, offenbar ärgerlich über
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