Der Zauberberg
die unvernünftige kleine Panik, der sie unterlegen und an der sie ihm, wie es scheint, die Schuld gibt, – blickt sie noch einmal nach ihm zurück, bemerkt seine Sprungstellung, seine emporgerissenen Brauen und wendet sich lächelnd ab.
Über dies Vorkommnis triumphierte Hans Castorp bis zur Ausgelassenheit. Jedoch blieb der Rückschlag nicht aus, denn Madame Chauchat wandte sich nun volle zwei Tage lang, also während der Dauer von zehn Mahlzeiten, überhaupt nicht mehr nach dem Saale um, ja, unterließ es sogar, sich bei ihrem Eintritt, wie es sonst ihre Gepflogenheit gewesen, dem Publikum zu »präsentieren«. Das war hart. Aber da diese Unterlassungen sich ganz ohne Zweifel auf ihn bezogen, so war eine Beziehung eben doch deutlich vorhanden, wenn auch in negativer Gestalt; und das mochte genügen.
Er sah wohl, daß Joachim vollständig recht gehabt hatte mit seiner Bemerkung, es sei gar nicht leicht, hier Bekanntschaft zu {219} machen, außer mit Tischgenossen. Denn während der einzigen knappen Stunde nach dem Diner, in der eine gewisse Geselligkeit regelmäßig statthatte, die aber oft auf zwanzig Minuten zusammenschrumpfte, saß Madame Chauchat ohne Ausnahme mit ihrer Umgebung, dem hohlbrüstigen Herrn, der humoristischen Wollhaarigen, dem stillen Dr. Blumenkohl und den hängeschultrigen Jünglingen, im Hintergrunde des kleinen Salons, der dem »Guten Russentisch« vorbehalten schien. Auch drängte Joachim stets bald zum Aufbruch, um die Abendliegekur nicht zu verkürzen, wie er sagte, und vielleicht noch aus anderen diätetischen Gründen, die er nicht anführte, die aber Hans Castorp ahnte und achtete. Wir erhoben den Vorwurf der Zügellosigkeit gegen ihn, aber wohin seine Wünsche nun immer gehen mochten, die gesellschaftliche Bekanntschaft mit Frau Chauchat war es nicht, was er anstrebte, und mit den Umständen, die dagegen wirkten, war er im Grunde einverstanden. Die unbestimmt gespannten Beziehungen, die sein Schauen und Betreiben zwischen ihm und der Russin hergestellt hatte, waren außergesellschaftlicher Natur, sie verpflichteten zu nichts und durften zu nichts verpflichten. Denn ein beträchtliches Maß von gesellschaftlicher Ablehnung vertrug sich wohl mit ihnen, auf seiner Seite, und die Tatsache, daß er den Gedanken an »Clawdia« dem Klopfen seines Herzens unterlegte, genügte bei weitem nicht, den Enkel Hans Lorenz Castorps in der Überzeugung wankend zu machen, daß er mit dieser Fremden, die ihr Leben getrennt von ihrem Mann und ohne Trauring am Finger an allen möglichen Kurorten verbrachte, sich mangelhaft hielt, die Tür hinter sich zufallen ließ, Brotkugeln drehte und zweifellos an den Fingern kaute, – daß er, sagen wir, in Wirklichkeit, das heißt: über jene geheimen Beziehungen hinaus, nichts mit ihr zu schaffen haben könne, daß tiefe Klüfte ihre Existenz von der seinen trennten, und daß er vor keiner Kritik, die er anerkannte, mit ihr bestehen würde. {220} Einsichtigerweise war Hans Castorp ganz ohne persönlichen Hochmut; aber ein Hochmut allgemeiner und weiter hergeleiteter Art stand ihm ja auf der Stirn und um die etwas schläfrig blickenden Augen geschrieben, und aus ihm entsprang das Überlegenheitsgefühl, dessen er sich beim Anblick von Frau Chauchats Sein und Wesen nicht entschlagen konnte noch wollte. Es war sonderbar, daß er sich dieses weitläufigen Überlegenheitsgefühls besonders lebhaft und vielleicht überhaupt zum erstenmal bewußt wurde, als er Frau Chauchat eines Tages Deutsch sprechen hörte, – sie stand, beide Hände in den Taschen ihres Sweaters, nach Schluß einer Mahlzeit im Saale, und mühte sich, wie Hans Castorp im Vorübergehen wahrnahm, im Gespräch mit einer anderen Patientin, einer Liegehallengenossin wahrscheinlich, auf übrigens reizende Art um die deutsche Sprache, Hans Castorps Muttersprache, wie er mit plötzlichem und nie gekanntem Stolze empfand, – wenn auch nicht ohne gleichzeitige Neigung, diesen Stolz dem Entzücken aufzuopfern, womit ihr anmutiges Stümpern und Radebrechen ihn erfüllte.
Mit einem Worte: Hans Castorp sah in seinem stillen Verhältnis zu dem nachlässigen Mitgliede Derer hier oben ein Ferienabenteuer, das vor dem Tribunal der Vernunft – seines eigenen vernünftigen Gewissens – keinerlei Anspruch auf Billigung erheben konnte: hauptsächlich deshalb nicht, weil Frau Chauchat ja krank war, schlaff, fiebrig und innerlich wurmstichig, ein Umstand, der mit der Zweifelhaftigkeit ihrer Gesamtexistenz nahe
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