Der Zauberberg
zusammenhing und auch an Hans Castorps Vorsichts- und Abstandsgefühlen stark beteiligt war … Nein, ihre wirkliche Bekanntschaft zu suchen, kam ihm nicht in den Sinn, und was das andere betraf, so würde es ja in anderthalb Wochen, wenn er bei Tunder & Wilms in die Praxis trat, wohl oder übel folgenlos beendet sein.
Vorderhand allerdings stand es so mit ihm, daß er angefan {221} gen hatte, die Gemütsbewegungen, Spannungen, Erfüllungen und Enttäuschungen, die ihm aus seinen zarten Beziehungen zu der Patientin erwuchsen, als den eigentlichen Sinn und Inhalt seines Ferienaufenthaltes zu betrachten, ganz ihnen zu leben und seine Laune von ihrem Gedeihen abhängig zu machen. Die Umstände leisteten ihrer Pflege den wohlwollendsten Vorschub, denn man lebte bei feststehender und jedermann bindender Tagesordnung auf beschränktem Raum beieinander, und wenn auch Frau Chauchat in einem anderen Stockwerk – im ersten – zu Hause war (sie hielt übrigens ihre Liegekur, wie Hans Castorp von der Lehrerin hörte, in einer gemeinsamen Liegehalle, nämlich der, die sich auf dem Dache befand, derselben, in der Hauptmann Miklosich neulich das Licht abgedreht hatte), so war doch allein schon durch die fünf Mahlzeiten, aber auch sonst auf Schritt und Tritt, vom Morgen bis zum Abend die Möglichkeit, ja Unumgänglichkeit der Begegnung gegeben. Und auch dies, ebenso wie das andere, daß keine Sorgen und Mühen die Aussicht versperrten, fand Hans Castorp famos, wenn auch solches Eingesperrtsein mit dem günstigen Ungefähr zugleich etwas Beklemmendes hatte.
Doch half er sogar noch ein bißchen nach, rechnete und stellte seinen Kopf in den Dienst der Sache, um das Glück zu verbessern. Da Frau Chauchat gewohnheitsmäßig verspätet zu Tische kam, so legte er es darauf an, ebenfalls zu spät zu kommen, um ihr unterwegs zu begegnen. Er versäumte sich bei der Toilette, war nicht fertig, wenn Joachim eintrat, um ihn abzuholen, ließ den Vetter vorangehen und sagte, er käme gleich nach. Beraten von dem Instinkt seines Zustandes, wartete er einen gewissen Augenblick ab, der ihm der richtige schien, und eilte ins erste Stockwerk hinab, wo er nicht die Treppe benutzte, die die Fortsetzung derjenigen bildete, die ihn herabgeführt hatte, sondern den Korridor fast bis ans Ende, bis zur anderen Treppe verfolgte, die einer längst bekannten Zimmertür – es {222} war die von Nr. 7 – nahegelegen war. Auf diesem Wege, den Korridor entlang, von einer Treppe zur anderen, bot sozusagen jeder Schritt eine Chance, denn jeden Augenblick konnte die bewußte Tür sich öffnen, – und das tat sie wiederholt: krachend fiel sie hinter Frau Chauchat zu, die für ihre Person lautlos hervorgetreten war und lautlos zur Treppe glitt … Dann ging sie vor ihm her und stützte das Haar mit der Hand, oder Hans Castorp ging vor ihr her und fühlte ihren Blick in seinem Rücken, wobei er ein Reißen in den Gliedern sowie ein Ameisenlaufen den Rücken hinunter verspürte, in dem Wunsche aber, sich vor ihr aufzuspielen, so tat, als wisse er nichts von ihr und führe sein Einzelleben in kräftiger Unabhängigkeit, – die Hände in die Rocktaschen grub und ganz unnötigerweise die Schultern rollte oder sich heftig räusperte und sich dabei mit der Faust vor die Brust schlug, – alles, um seine Unbefangenheit zu bekunden.
Zweimal trieb er die Abgefeimtheit noch weiter. Nachdem er am Eßtisch schon Platz genommen, sagte er bestürzt und ärgerlich, indem er sich mit beiden Händen betastete: »Da, ich habe mein Taschentuch vergessen! Jetzt heißt es, sich noch einmal hinaufbequemen.« Und er ging zurück, damit er und »Clawdia« einander
begegneten
, was denn doch noch etwas anderes, gefährlicher und von schärferen Reizen war, als wenn sie vor oder hinter ihm ging. Das erstemal, als er dies Manöver ausgeführt, maß sie ihn zwar aus einiger Entfernung mit den Augen, und zwar recht rücksichtslos und ohne Verschämtheit, von oben bis unten, wandte aber, herangekommen, gleichgültig das Gesicht ab und ging so vorüber, so daß das Ergebnis dieses Zusammentreffens nicht hoch zu veranschlagen war. Beim zweitenmal aber sah sie ihn an, und nicht nur von weitem, – die ganze Zeit sah sie ihn an, während des ganzen Vorganges, blickte ihm fest und sogar etwas finster in das Gesicht und drehte im Vorübergehen sogar noch den Kopf nach ihm, – {223} es ging dem armen Hans Castorp durch Mark und Bein. Übrigens sollte man ihn nicht bedauern, da er es
Weitere Kostenlose Bücher