Der Zauberberg
wie ein anderer, und Pflichterfüllung war Pflichterfüllung. So drängte denn Joachim abends schon nach einer Viertelstunde aus der Geselligkeit fort in die Liegekur, und das war gut, denn seine militärische Genauigkeit kam dem zivilen Sinn Hans Castorps gewissermaßen zu Hilfe, der sich sonst wohl, sinn- und aussichtsloserweise, gern noch des längeren an der Geselligkeit beteiligt hätte, mit Aussicht auf den kleinen Russensalon. Daß aber Joachim so dringlich darauf bedacht war, die Abendgeselligkeit abzukürzen, das hatte noch einen anderen, verschwiegenen Grund, auf den sich Hans Castorp genau verstand, seit er Joachims fleckiges Erblassen und jene eigentümlich klägliche Art, in der sein Mund sich in gewissen Augenblicken verzerrte, so genau verstehen gelernt hatte. Denn auch Marusja, die ewig lachlustige Marusja mit dem kleinen Rubin an ihrem schönen Finger, dem Apfelsinenparfüm und der hohen, wurmstichigen Brust war ja bei der Geselligkeit meistens zugegen, und Hans Castorp begriff, daß dieser Umstand Joachim forttrieb, weil er ihn allzusehr, auf eine schreckliche Weise anzog. War auch Joachim »eingesperrt«, – noch enger und beklemmender sogar als er selbst, da ja Marusja mit ihrem Apfelsinentüchlein zu allem Überfluß auch noch fünfmal am Tage mit ihnen zusammen an demselben Eßtisch saß? Jedenfalls hatte Joachim viel zu {226} viel mit sich selbst zu tun, als daß sein Dasein eigentlich innerlich hilfreich für Hans Castorp hätte sein können. Seine tägliche Flucht aus der Geselligkeit wirkte zwar ehrenhaft, aber nichts weniger als beruhigend auf diesen, und dann kam es ihm augenblicksweise auch vor, als ob Joachims gutes Beispiel in bezug auf die Pflichttreue im Kurdienst, die kundige Anleitung dazu, die er ihm zuteil werden ließ, ihr Bedenkliches hätten.
Hans Castorp war noch nicht zwei Wochen an Ort und Stelle, aber es schien ihm länger, und die Tagesordnung Derer hier oben, die Joachim an seiner Seite so dienstfromm beobachtete, hatte angefangen, in seinen Augen das Gepräge einer heilig-selbstverständlichen Unverbrüchlichkeit anzunehmen, so daß ihm das Leben im Flachlande drunten, von hier gesehen, fast sonderbar und verkehrt erschien. Schon hatte er in der Handhabung der beiden Decken, mit denen man bei kalter Witterung in der Liegekur ein ebenmäßig Paket, eine richtige Mumie aus sich machte, schöne Gewandtheit gewonnen; es fehlte nicht viel, so tat er es Joachim gleich in der sicheren Fertigkeit und Kunst, sie vorschriftsmäßig um sich zu schlagen, und fast mußte er sich wundern bei dem Gedanken, daß in der Ebene drunten niemand etwas von dieser Kunst und Vorschrift wußte. Ja, das war wunderlich; – aber zugleich wunderte sich Hans Castorp darüber, daß er es wunderlich fand, und jene Unruhe, die ihn innerlich nach Rat und Stütze sich umsehen ließ, stieg neuerdings in ihm auf.
Er mußte an Hofrat Behrens denken und an seinen sine pecunia erteilten Rat, ganz so zu leben wie die Patientenschaft und sich sogar auch zu messen, – und an Settembrini, der über diesen Rat so laut in die Luft hinein gelacht und dann etwas aus der »Zauberflöte« zitiert hatte. Ja, auch an diese beiden dachte er probeweise, um zu sehen, ob es ihm gut täte. Hofrat Behrens war ja ein weißhaariger Mann, er hätte Hans Castorps Vater sein können. Dazu war er Vorsteher der Anstalt, die höchste Au {227} torität, – und väterliche Autorität war es, wonach der junge Hans Castorp ein unruhiges Herzensbedürfnis empfand. Und doch wollte es ihm nicht gelingen, wenn er es versuchte, des Hofrats mit kindlichem Vertrauen zu gedenken. Er hatte hier seine Frau begraben, ein Kummer, von dem er vorübergehend etwas wunderlich geworden war, und dann war er am Orte geblieben, weil das Grab ihn band, und außerdem weil er selbst etwas abbekommen hatte. War es nun vorbei damit? War er gesund und unzweideutig gesonnen, die Leute gesund zu machen, damit sie recht bald ins Flachland zurückkehren und Dienst tun könnten? Seine Backen waren beständig blau, und eigentlich sah er aus, als hätte er Übertemperatur. Aber das mochte auf Täuschung beruhen und nur die Luft schuld sein an dieser Gesichtsfarbe: Hans Castorp selber spürte hier ja tagein, tagaus eine trockene Hitze, ohne Fieber zu haben, soweit er es ohne Thermometer beurteilen konnte. Zwar, wenn man den Hofrat reden hörte, konnte man wieder zuweilen an Übertemperatur glauben; es war nicht ganz richtig mit seiner Redeweise: sie klang so
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