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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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nicht anders gewollt und alles selbst in die Wege geleitet hatte. Aber die Begegnung ergriff ihn gewaltig, sowohl während sie sich abspielte wie namentlich noch nachträglich; denn erst als alles vorüber war, sah er recht deutlich, wie es gewesen. Noch niemals hatte er Frau Chauchats Gesicht so nahe, so in allen Einzelheiten klar erkennbar vor sich gehabt: er hatte die kurzen Härchen unterscheiden können, die sich aus dem Geflecht ihres blonden, ein wenig ins Metallisch-Rötliche spielenden und einfach um den Kopf geschlungenen Zopfes lösten, und nur ein paar Handbreit Raum war gewesen zwischen seinem Gesicht und dem ihren in seiner wundersamen, ihm aber von langer Hand her vertrauten Bildung, die ihm zusagte wie nichts in der Welt: einer Bildung, fremdartig und charaktervoll (denn nur das Fremde scheint uns Charakter zu haben), von nördlicher Exotik und geheimnisreich, zur Ergründung auffordernd, insofern ihre Merkmale und Verhältnisse nicht leicht zu bestimmen waren. Das Entscheidende war wohl die Betontheit der hochsitzenden Wangenknochenpartie: sie bedrängte die ungewohnt flach, ungewohnt weit voneinander liegenden Augen und trieb sie ein wenig ins Schiefe, während sie zugleich die Ursache abgab für das weiche Konkav der Wangen, das wiederum, von seiner Seite und mittelbar, die leicht aufgeworfene Üppigkeit der Lippen bewirkte. Dann aber waren da namentlich die Augen selbst gewesen, diese schmal und (so fand Hans Castorp) schlechthin zauberhaft geschnittenen Kirgisenaugen, deren Farbe das Graublau oder Blaugrau ferner Berge war, und die sich zuweilen, bei einem gewissen Seitenblick, der nicht zum Sehen diente, auf eine schmelzende Weise völlig ins Schleierig-Nächtige verdunkeln konnten, – Clawdias Augen, die ihn rücksichtslos und etwas finster aus nächster Nähe betrachtet hatten und nach Stellung, Farbe, Ausdruck denen Pri {224} bislav Hippes so auffallend und erschreckend ähnlich waren! »Ähnlich« war gar nicht das richtige Wort, – es waren dieselben Augen; und auch die Breite der oberen Gesichtshälfte, die eingedrückte Nase, alles, bis auf die gerötete Weiße der Haut, die gesunde Farbe der Wangen, die bei Frau Chauchat ja aber Gesundheit nur vortäuschte und, wie bei allen hier oben, nichts als ein oberflächliches Erzeugnis der Liegekur im Freien war, – alles war ganz wie bei Pribislav, und nicht anders hatte dieser ihn angesehen, wenn sie auf dem Schulhof aneinander vorübergingen.
    Das war erschütternd in jedem Sinn; Hans Castorp war begeistert von der Begegnung, und zugleich spürte er etwas wie aufsteigende Angst, eine Beklemmung derselben Art, wie das Eingesperrtsein mit dem günstigen Ungefähr auf engem Raum ihm verursachte: auch dies, daß der längst vergessene Pribislav ihm hier oben als Frau Chauchat wieder begegnete und ihn mit Kirgisenaugen ansah, war wie ein Eingesperrtsein mit Unumgänglichem oder Unentrinnbarem, – in beglückendem und ängstlichem Sinn Unentrinnbarem. Es war hoffnungsreich und zugleich auch unheimlich, ja bedrohlich, und ein Gefühl der Hilfsbedürftigkeit kam den jungen Hans Castorp an, – in seinem Inneren vollzogen sich unbestimmte und instinktmäßige Bewegungen, die man als ein Sichumsehen, als ein Tasten und Suchen nach Hilfe, nach Rat und Stütze hätte ansprechen mögen; er dachte nacheinander an verschiedene Personen, an die zu denken etwa zuträglich sein mochte.
    Da war Joachim, der gute, ehrenfeste Joachim an seiner Seite, dessen Augen in diesen Monaten einen so traurigen Ausdruck angenommen, und der zuweilen so wegwerfend-heftig mit den Achseln zuckte, wie er es früher nie und nimmer getan, – Joachim mit dem »Blauen Heinrich« in der Tasche, wie Frau Stöhr dies Gerät zu bezeichnen pflegte: mit einem so störrisch schamlosen Gesicht, daß es Hans Castorp jedesmal in der Seele ent {225} setzte … Der redliche Joachim also war da, der Hofrat Behrens tirrte und plagte, um fortzukommen und in der »Ebene« oder im »Flachlande«, wie man hier die Welt der Gesunden mit einem leisen, aber deutlichen Akzent von Geringschätzung nannte, seinen ersehnten Dienst tun zu können. Damit er schneller dazu gelange und Zeit spare, mit der man hier so verschwenderisch umging, hielt er denn vorerst einmal mit aller Gewissenhaftigkeit den Kurdienst ein, – tat es um seiner baldigen Genesung willen, ohne Frage, aber, wie Hans Castorp manchmal zu spüren glaubte, ein wenig doch auch um des Kurdienstes willen, der am Ende ein Dienst war

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