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Der Zauberberg

Der Zauberberg

Titel: Der Zauberberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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forsch und fidel und gemütlich, aber es war etwas Sonderbares darin, etwas Exaltiertes, besonders wenn man die blauen Backen mit in Betracht zog, sowie die tränenden Augen, die aussahen, als weine er immer noch über seine Frau. Hans Castorp erinnerte sich dessen, was Settembrini über des Hofrats »Schwermut« und »Lasterhaftigkeit« ausgesagt, und daß er ihn eine »verworrene Seele« genannt hatte. Das mochte Bosheit sein und Windbeutelei; aber er fand trotzdem, daß es nicht sonderlich stärkend sei, an Hofrat Behrens zu denken.
    Aber da war denn freilich noch dieser Settembrini selbst, der Oppositionsmann, Windbeutel und »homo humanus«, wie er sich selber nannte, der es ihm mit vielen prallen Worten verwiesen hatte, Krankheit und Dummheit zusammen einen Widerspruch und ein Dilemma für das menschliche Gefühl zu nennen. Wie stand es mit ihm? Und war es zuträglich, an ihn zu {228} denken? Hans Castorp erinnerte sich wohl, wie er in mehreren der übermäßig lebhaften Träume, die hier oben seine Nächte erfüllten, Ärgernis genommen an dem feinen, trockenen Lächeln des Italieners, das sich unter der schönen Rundung seines Schnurrbartes kräuselte, wie er ihn einen Drehorgelmann gescholten und ihn wegzudrängen versucht hatte, weil er hier störe. Aber das war im Traum gewesen, und der wachende Hans Castorp war ein anderer, weniger ungehemmt als der des Traumes. Im Wachen mochte es etwas anderes sein, – vielleicht tat er gut daran, es innerlich mit Settembrinis neuartigem Wesen zu versuchen, – mit seiner Aufsässigkeit und Kritik, obgleich sie larmoyant und geschwätzig war. Er selbst hatte sich ja einen Pädagogen genannt; offenbar wünschte er Einfluß zu nehmen; und den jungen Hans Castorp verlangte es herzlich, beeinflußt zu werden, – was ja freilich so weit nicht zu gehen brauchte, daß er sich von Settembrini bestimmen ließ, seinen Koffer zu pakken und vor der Zeit abzureisen, wie jener es neulich allen Ernstes in Vorschlag gebracht hatte.
    Placet experiri, dachte er bei sich lächelnd, denn so viel Latein verstand er auch noch, ohne sich einen homo humanus nennen zu dürfen. Und so hatte er denn ein Auge auf Settembrini und hörte bereitwillig und nicht ohne prüfende Aufmerksamkeit auf das, was er alles zum besten gab bei Begegnungen, wie sie bei den gemessenen Kurpromenaden zur Bank an der Bergwand oder nach »Platz« hinab sich beiläufig ereigneten, oder bei anderer Gelegenheit, zum Beispiel wenn Settembrini nach beendeter Mahlzeit sich als erster erhob und in seinen karierten Beinkleidern, einen Zahnstocher zwischen den Lippen, durch den Saal mit den sieben Tischen schlenderte, um gegen alle Vorschrift und Übung ein wenig am Tische der Vettern zu hospitieren. Er tat es, indem er in anmutiger Haltung, mit gekreuzten Füßen, Aufstellung nahm und mit dem Zahnstocher gestikulierend plauderte. Oder er zog auch einen Stuhl {229} heran, nahm Platz an einer Ecke zwischen Hans Castorp und der Lehrerin einerseits oder zwischen Hans Castorp und Miß Robinson andererseits und sah zu, wie die neun Tischgenossen ihren Nachtisch verzehrten, auf den er verzichtet zu haben schien.
    »Ich bitte um Zutritt in diesen edlen Kreis«, sagte er, indem er den Vettern die Hand schüttelte und die übrigen Personen mit einer Verbeugung umfaßte. »Dieser Bierbrauer dort drüben … von dem verzweiflungsvollen Anblick der Bierbrauerin zu schweigen. Aber dieser Herr Magnus, – soeben hat er einen völkerpsychologischen Vortrag gehalten. Wollen Sie hören? ›Unser liebes Deutschland ist eine große Kaserne, gewiß. Aber es steckt viel Tüchtigkeit dahinter, und ich tausche unsere Gediegenheit für die Höflichkeit der andern nicht ein. Was hilft mir alle Höflichkeit, wenn ich vorn und hinten betrogen werde?‹ In diesem Stile. Ich bin am Rand meiner Kräfte. Dann sitzt da mir gegenüber ein armes Wesen mit Friedhofsrosen auf den Backen, eine alte Jungfer aus Siebenbürgen, die ohne Unterbrechung von ihrem ›Schwager‹ spricht, einem Menschen, von dem niemand etwas weiß, noch wissen will. Kurzum, ich kann nicht mehr, ich habe mich aus dem Staub gemacht.«
    »Fluchtartig haben Sie das Panier ergriffen,« sagte Frau Stöhr; »das kann ich mir denken.«
    »Exakt!« rief Settembrini. »Das Panier! Ich sehe, hier weht ein anderer Wind, – kein Zweifel, ich bin vor die rechte Schmiede gekommen. Fluchtartig also ergriff ich es … Wer so seine Worte zu setzen wüßte! – Darf ich mich nach den

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