Der Zauberer von Stonehenge
mehrzu ahnen als zu sehen. Gewaltige Monumente in einer grauen Dämmerung irgendwo vor uns.
Der Weg würde weit sein und bestimmt auch voller Gefahren stecken. Ich wollte Octavio schon ansprechen, als ich aus der Ferne einen leisen Schrei vernahm.
»Was war das?«
»Wie? Ich habe nichts gehört.«
»Es war ein Schrei.«
»Tasächlich?«
Nahm er mich auf den Arm oder bildete ich mir das nur ein. Ich traute ihm nicht für einen Cent. Dieser Mensch hatte sicherlich noch einige Tricks in der Hinterhand. Und ich erinnerte mich auch sehr gut an seine Worte, die ich nicht verstanden hatte.
»Willst du sofort zu den Steinen?« fragte er.
»Natürlich.«
»Und was ist mit deinem Freund, dem Chinesen? Soll er nicht mit? Willst du ihn nicht rufen?«
»Nein!«
Octavio gefiel die Antwort nicht. »Wie kommt es? Hat er dich verlassen? Ist er nicht hier — oder…«
»Er hat mich und dieses Lager verlassen. Für zwei Neulinge ist kein Platz.«
»Meinst du?«
»Ja.« Zu weiteren Erklärungen ließ ich mich nicht hinreißen. Er sollte selbst etwas von der Unsicherheit spüren, die auch mich befallen hatte. Ich dachte an den Zauberer. Einen Namen schien er nicht gehabt zu haben. Für mich war interessant, daß er mit Gallicos Stimme gesprochen hatte. Die eine Spiegelscherbe war das Verbindungsstück über Welten hinweg. Glücklicherweise befand sie sich in meinem Besitz, und ich würde sie auch nicht so leicht wieder abgeben.
Den genauen Weg kannte ich zwar nicht, wußte aber, in welch eine Richtung wir zu gehen hatten. Nach Süden.
»Dann mal los«, sagte ich locker. »Ein Fußmarsch kann niemanden schaden, auch dir nicht, Octavio.«
Ich bekam keine Antwort. Der Meister folgte meinem Befehl. Schweigend schritt er vor, hinein in die anbrechende Nacht…
***
Es wurde für uns ein sehr langer Marsch durch die Finsternis. Ein Marsch, der schweigend verlief, denn keiner von uns hatte Interesse daran, irgendwelche Worte zu sagen oder eine Unterhaltung anzufangen.
Wie sehr Entfernungen täuschen können, das stellte ich jetzt wieder fest, als wir unseren Ziel kaum näher zu kommen schienen. Ich konnte auch so gut wie nichts erkennen, weil eben der Abend seine Schwingen über das Land ausgebreitet hatte.
Die große Ebene, in der die Steine lagen, erwies sich jetzt als Vorteil. Das Land war flach, von wenigen Straßen durchzogen, die wir jedoch mieden.
Wir waren ungefähr eine halbe Stunde unterwegs, als wir auf einen Pfad trafen.
Octavio blieb stehen.
»Was ist los?« fragte ich ihn.
»Der Pfad führt zu den Steinen. Viele Pilger sind ihn schon gegangen.«
»Dann werden wir ihn auch nehmen.«
»Das hatte ich vorschlagen wollen.«
So schritten wir wieder tiefer hinein in den Abend. Manchmal sahen wir entfernte Lichter. Immer dann, wenn ein Auto über die Straßen fuhr, die das Gebiet durchkreuzten.
Wind kam auf.
Er blies gegen unsere Kutten und in unsere Gesichter. Mich störte die Kleidung. Mit der freien Hand zog ich den Reißverschluß nach unten und ließ das Gewand fallen. So konnte ich bequem wieder aus ihm heraussteigen. Der Pfad blieb eng und auch weich. Das Regenwasser hatte ihn etwas glatt gemacht. Auf ihm wuchs zudem dunkles Gras. Manchmal säumten ihn Büsche.
Die Steine erschienen mir in der Finsternis wie ein gewaltiger Wall. Sie erhoben sich dunkel und drohend vom Boden.
Ich wußte von den weitläufigen Absperrungen und Zäunen, die man gebaut hatte, um dem wilden Treiben an dieser Kultstätte einen Riegel vorzuschieben.
Den ersten Zaun erreichten wir. Ich hatte in die freie Hand die Lampe genommen, leuchtete über Verbotsschilder und entdeckte eine Lücke im Maschendraht, die so groß war, daß wir hindurchkriechen konnten. Octavio ging vor. Ich folgte ihm sehr schnell, doch er traf keinerlei Anstalten, mir zu entwischen oder mich überwältigen zu wollen. Hinter dem Zaun stemmte er sich wieder hoch.
Ein wenig wunderte ich mich schon über die Passivität des Anführers. Die Stonehenge People hatten klare Anweisungen bekommen. Der Zauberer kannte kein Pardon. Wenn sie ihm hörig waren, dann mußten sie tun, was er wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er mich am Leben lassen wollte.
Octavio stand jetzt vor mir, so daß wir uns anschauen konnten.
»Es dauert nicht mehr lange«, sagte er.
»Ich weiß. Wann kommen deine Leute?«
»Um Mitternacht, denke ich.«
Ich schaute den Weg zurück. Er lag in der Dunkelheit. Nichts war zu sehen, auch kein Fackelschein oder Licht, mit dem ich
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