Der Zauberspiegel
lauschte sie dem Telefongespräch. Schließlich reichte ihr Niemeyer das Handy.
»Deine Mutter möchte dich sprechen.«
Juliane spürte einen Kloß in ihrem Magen, als sie den Hörer an ihr Ohr drückte. »Ja?«
»Bist du total abgedreht?«, brüllte Constanze, sodass ihr die Ohren summten. »Wie kommst du zu einem Joint?«
Juliane fühlte grenzenlose Erleichterung, der Druck in ihrem Magen ließ nach und sie schluckte. »Mutti?«
»Ich werde mit ihr reden. Mach dich auf ein Donnerwetter gefasst. Du weißt, wie sie ist.«
»Die Fahrkarten, bitte!« Der Schaffner zwinkerte Juliane aufmunternd zu. Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr absolut nicht danach zumute war.
Natürlich hatte sie nicht allein zurückfahren dürfen. Herr Niemeyer begleitete sie. Sie saßen sich seit der Abfahrt wortlos gegenüber. In dem Abteil befand sich sonst niemand und so waren die einzigen Geräusche das Rattern und Quietschen des Zuges – und Niemeyers sprunghafte Gedanken.
Ich werde einen Bericht schreiben müssen … Anja und Christine werden Augen machen. Vielleicht komme ich noch früh genug, um mit meinen zwei Süßen auf den Spielplatz zu gehen.
Juliane schaltete den MP3-Player aus. Solange sie Niemeyers Gedanken hören musste, störte sie die Musik. Sie wünschte sich aus tiefster Seele, sie könnte diese Fähigkeit wenigstens steuern oder ein Muster darin erkennen. Manchmal blieben die Stimmen in ihrem Kopf aus, obwohl sie an den Gesichtern nur zu deutlich sehen konnte, wie aufgewühlt die Leute waren.
Der Schaffner ging weiter und Juliane erhob sich.
»Wohin willst du?«
Juliane blickte auf Niemeyer hinunter und bemerkte auf seinem Oberkopf eine schüttere Stelle und Schuppen. »In den Speisewagen. Cola holen.«
Ein Nicken. »In Ordnung.«
Juliane zögerte. »Kann ich Ihnen etwas mitbringen?«
Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte er. »Nein, danke.«
Im Speisewagen befand sich niemand außer dem Kellner.
»Eine Cola.« Juliane zog ihren Geldbeutel aus dem Rucksack. »Bitte!«
Der Mann zog behäbig den Kühlschrank auf, beugte sich vor und hielt eine Weile inne. »Wie wär’s mit einer Limo?«
»Wenn Sie keine Cola mehr haben, lieber nichts, danke.« Juliane wandte sich ab.
»Nein, warte.« Er kratzte seinen rübenförmigen Schädel. »Ich muss nur eine aus dem Lager holen.« Er verschwand durch eine schmale Tür.
Juliane spürte einen sachten Windzug hinter sich.
»Hallo!«
Sie zuckte zusammen und drehte sich um.
Weiß!
Strahlendes Weiß flutete ihre Sehnerven. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Sie blinzelte gegen das Licht an und starrte auf eine Frau. Die Unbekannte besaß platinblondes, langes Haar und trug ein weißes, fließendes Gewand. Juliane hatte noch nie jemanden gesehen, der annähernd ähnlich gekleidet war.
»Ich habe dich erschreckt, das tut mir leid«, meinte die Frau. Sie hob ihren Arm und drückte einen protzigen Handspiegel an ihre Brust.
Juliane schüttelte mechanisch den Kopf. »Ich … ich habe Sie nicht gesehen.«
»Man achtet selten auf mich.« Ein Muskel in ihrem sonst ruhigen Gesicht zuckte.
Juliane blickte nervös über die Schulter. Wo blieb der Kellner?
»Es war sehr nobel von dir, deine Freundin zu beschützen.«
Julianes Herz pochte schneller. Woher wusste die Unbekannte davon?
»Also, min Deern, hier ist deine Cola«, rief der Kellner aus dem Lager.
Juliane wandte sich der Lagertür zu und fühlte hinter sich erneut einen Luftzug. Der Mann tauchte auf und hielt die Dose vor sich, als wäre sie der Oscar für hartnäckige Suche.
Juliane drehte sich um, doch die seltsame Frau war verschwunden. Auf dem Tisch, neben dem die Fremde gestanden hatte, lag der wertvoll aussehende Handspiegel. Das Accessoire glänzte goldfarben und war mit wundervollen, feinen Ornamenten und einem taubeneigroßen Glasstein am Griff verziert.
»Wo ist die Frau hin, die gerade noch dort stand?«
Der Kellner starrte sie zweifelnd an. »Welche Frau?«
»Weißes Haar und weißes Kleid oder Mantel«, erwiderte Juliane.
»Hab niemanden gesehen.«
Juliane runzelte die Stirn. Wieso hatte er die Frau nicht bemerkt? Sie konnte unmöglich so schnell aus dem Abteil gelaufen sein.
»Aber …« Sie verstummte. Sie wollte keine Diskussion anfangen, am Ende hielt er sie noch für verrückt.
»Alles in Ordnung mit dir? Es war niemand da. Hätte ich doch sehen müssen.«
Juliane nickte. Sie reichte dem Kellner das Geld und nahm den Handspiegel an sich. Das Kleinod wog mehr als gedacht,
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