Der Zauberstein von Brisingamen
fertig. Die Gestaltwandlerin ging an den Tisch und nahm die Rute auf.
«Es ist nicht die rechte Stunde, die Hilfe, die wir brauchen, herbeizurufen», sagte sie, «aber wenn das, was Ihr vernommen habt, auch nur eine Spur von Wahrheit enthält, dann sehen wir die Notwendigkeit unverzüglich zu handeln, obwohl wir uns von Eurer Seite ein besonneneres Vorgehen gewünscht hätten.» Sie wies auf die graue Wolke, die vor dem Fenster hing, hinter dem jetzt kein Augenpaar mehr lauerte. «Ihr könntet damit durchaus unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.»
In diesem Augenblick erhob sich, wie als Antwort auf ihre Befürchtungen, ein fernes Lärmen an der Rückseite des Hauses. Es war das unheimliche Jaulen von Jagdhunden.
«Ah, da habt Ihr’s! Sie sind unruhig: Sie haben etwas gewittert. Vielleicht wäre es klug, sie es aufspüren zu lassen; so werden wir erfahren, ob es etwas ist, das stärker ist als sie –
denn das könnte gut sein! Wenn wir Ragnarök und Fundindelve vor Tagesende noch nicht auf dem Hals haben, wird das ganz gewiss nicht Euer Verdienst sein!»
Sie stapfte um die Ecke des Hauses zu dem Nebengebäude, von wo der schaurige Lärm kam. Selina Place war beunruhigt und schlechter Laune. Trotz all seiner Kunst – welch ein Narr konnte Grimnir doch sein! Und welche Wagnisse er einging!
Wer, der noch bei Verstand wäre, würde mit so einem Anliegen auf eine solch auffallende Weise zu ihr kommen!
Ebenso wenig wie seine Zauberkunst war er selbst Feuerfrost, dem Zauberstein von Brisingamen, gewachsen. Sie lächelte; ja, es bedurfte der alten Magie, um diesen Stein zu bezwingen, und das wusste er auch, trotz all seinem Getue in Llyndhu.
«Schon gut, schon gut! Wir kommen! Reißt doch nicht die Tür ein!»
Hinter ihrem Rücken kamen zwei Schatten aus dem Nebel, glitten an der Wand entlang und durch die offene Tür ins Haus.
«Wohin jetzt?», flüsterte Susan.
Sie standen in einem sehr engen Gang und hatten drei Türen zur Auswahl, die von diesem abgingen. Eine stand halb offen und schien in eine Garderobe zu führen.
«Hier hinein, dass wir sehen, welche Tür sie nimmt.»
Und sie verloren keine Zeit damit, denn die schweren Schritte Selina Places näherten sich ihnen durch den Nebel.
«Nun wollen wir tun, was wir in der Eile tun können», sagte sie, als sie wieder bei Grimnir ankam. «Es mag gar nichts Bedrohliches sein, aber wir werden uns nicht sicher fühlen, bis wir den Stein beherrschen. Gebt ihn nun her.»
Grimnir löste den Beutel an seinem Gürtel und zog Susans Armband daraus hervor. Daran hing Feuerfrost, und seine Klarheit und Tiefe waren unter einem milchigen Schleier verborgen.
Die Morrigan nahm das Armband und legte es in die Mitte des Kreises auf den Fußboden. Sie zog die Vorhänge vor Fenster und Türen und stellte sich neben die Kohlenpfanne, deren schwaches Glühen die Dunkelheit kaum zu vertreiben vermochte. Sie nahm eine Hand voll Pulver von dem Silberteller, verstreute es über die Kohlen und rief mit lauter Stimme:
«Demoriel, Carnefiel, Caspiel, Amenadiel!!»
Da loderte eine Flamme auf und erfüllte den Raum mit rubinrotem Licht. Die Gestaltwandlerin schlug das große Buch auf und begann zu lesen.
«Vos omnes it ministri odei et destructiones et seratores discorde… »
«Was hat sie vor?», fragte Susan.
«Keine Ahnung, aber ich krieg ‘ne Gänsehaut.»
«… eo quod est noce vos coniurase ideo vos conniro et deprecur…»
«Colin, ich…»
«Pscht! Sei ruhig!»
«… et odid fiat mier alve…»
In den entlegensten Winkeln des Zimmers sammelten sich Schatten zwischen den Falten der Samttapete. Dreißig Minuten lang waren Colin und Susan gezwungen, reglos in ihrem unsicheren Versteck zu verharren, und es dauerte nicht einmal halb so lange, bis ihnen auch die letzte Spur von Begeisterung vergangen war. Dass sie sich in dieser Lage befanden, war das Ergebnis einer spontanen Regung, eines inneren Dranges, der sie ohne einen Gedanken an Gefahr vorangetrieben hatte. Jetzt aber hatten sie Zeit zum Nachdenken, und solche Untätigkeit ist dem Mut stets abträglich. Wahrscheinlich wären sie weggeschlichen und hätten versucht, Cadellin zu finden, wenn sie nicht ein Furcht erregendes Schnüffeln, das immer wieder unter dem Fenster des Garderobenraums erklang, daran gehindert hätte, die Tür nach außen zu öffnen. Und währenddessen dauerte der monotone Gesang der Gestaltwandlerin, hin und wieder zu rauen Befehlsrufen anschwellend, ständig an.
«Komm, Haborym! Komm,
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