Der Zauberstein von Brisingamen
die Tür steht halb offen.»
«Was soll uns das nutzen?»
«Ich weiß nicht. Vielleicht sieht Grimnir uns dann nicht, oder der Hund greift ihn an, oder… oh, schlimmer kann’s ja gar nicht mehr werden!»
«Ist da Platz genug drin?»
«Er reicht bis zur Decke.»
«Gut, geh rein!»
Susan ging hinein und hielt Colin die Tür auf, während er sich rückwärts darauf zubewegte. Der Hund schnappte nach den Stuhlbeinen und versuchte sie mit den Pfoten herunterzuschlagen. Holz krachte und Splitter flogen umher, Colin musste den Stuhl senken, aber er war schon an der Tür.
Er schleuderte den Stuhl nach dem knurrenden Schädel und stolperte rückwärts in den Schrank. Susan sah noch eine rote Zunge aus einem klaffenden Maul heraushängen und Zentimeter vor ihrem Gesicht weiße Fangzähne aufblitzen, bevor sie die Tür zuknallte; und im selben Augenblick hörte sie, wie die Küchentür heftig aufgestoßen wurde. Dann wurde sie ohnmächtig.
Oder zumindest glaubte sie, sie sei ohnmächtig geworden. Ihr Magen hob sich, ihr schwindelte und sie schien in eine bodenlose Finsternis zu stürzen. Aber war sie wirklich ohnmächtig? Sie spürte, dass Colin sie anrempelte, als er sich bemühte aufzustehen, und den Druck der Schrankwand in ihrem Rücken. Sie zwickte sich. Nein, sie war nicht ohnmächtig.
Colin und Susan standen bewegungslos nebeneinander und sammelten Mut für den Augenblick, da die Tür geöffnet werden würde. Doch in der Küche schien es unnatürlich ruhig.
Kein einziges Geräusch war zu hören.
«Was ist los?», flüsterte Colin. «Es ist zu ruhig da draußen.»
«Pscht!»
«Ich seh nirgendwo ein Schlüsselloch, du vielleicht? Da muss doch eins sein.» Er beugte sich vor, um danach zu tasten.
«Au!»
Colin stieß einen überraschten Schmerzensschrei aus, sodass Susan diesmal wirklich fast in Ohnmacht fiel.
«Sue! Die Tür ist weg!»
«W-was?»
«Weg! Dort ist jetzt etwas, das sich anfühlt wie eine glatte Felswand, die sich nach oben bewegt; ich habe mir die Hand daran aufgeschürft. Darum also hatte ich auf einmal diesen Druck auf den Ohren! Wir sind in einem Aufzug!»
Während er noch sprach, spürten sie einen Ruck und eiskalte feuchte Luft wehte ihnen ins Gesicht. Sie gewahrten eine so tiefe Stille, dass sie ihre Herzen schlagen hören konnten.
«Wo sind wir nur, um alles in der Welt?», fragte Colin.
«Es muss wohl eher heißen: Wo in der Welt sind wir bloß!»
Susan kniete sich auf den Boden des Schranks und tastete mit ihrer Hand dorthin, wo vorher die Tür gewesen war. Nichts.
Sie tastete nach unten und stieß auf feuchten Fels. «Nun, ein Boden ist da. Packen wir mal unsere Fahrradlampen aus und sehen uns an, wo wir hier gelandet sind.»
Sie setzten ihre Rucksäcke ab und wühlten zwischen den Limonadeflaschen und Butterbroten herum.
Beim Schein ihrer Lampen sahen sie, dass sie sich am Eingang eines Tunnels befanden, der sich im Dunkel verlor.
«Und was machen wir jetzt?»
«Zurück können wir ja wohl nicht, selbst wenn wir wollten.»
«Nein», sagte Susan. «Aber das da gefällt mir überhaupt nicht.»
«Mir auch nicht, aber wir haben wohl kaum eine andere Wahl, also komm!»
Sie schulterten ihre Rucksäcke und betraten den Tunnel, aber schon Sekunden später ließ sie ein leises Geräusch herumwirbeln und ihren Herzschlag bis in den Hals spüren.
«Jetzt ist es aus», sagte Colin, als er in den Schacht hinaufblickte, in dem der Schrank verschwand. «Jetzt werden sie uns im Nu eingeholt haben.»
Zehntes Kapitel
Der Schacht
Die Kinder gingen so schnell sie konnten, stolperten auf dem unebenen Untergrund und stießen sich blaue Flecken an den Wänden. Die Luft war modrig, und schon nach einer Minute keuchten sie, als wären sie eine Meile gelaufen; aber sie rannten weiter, nur zwei Wünsche im Kopf –
dem, was auch immer sie verfolgte, zu entkommen und Cadellin oder Fenodyree zu finden. Wenn sie nur in Fundindelve wären!
Der Gang machte eine unerwartete Biegung, und als Susan abrupt und ohne Vorwarnung stehen blieb, konnte Colin einen Zusammenstoß nicht vermeiden, sodass sie beide hinfielen, aber zum Glück dennoch ihre Lampen fest halten konnten.
Fragen erübrigten sich bei dem Anblick, der sich ihnen bot.
Der Tunnel endete in einem Schacht, der in eine Schwindel erregende Tiefe führte, die ihr Lichtstrahl nicht mehr erreichte.
An einem dicken, tief in den Fels getriebenen Haken hing eine Strickleiter. Sie war feucht und mit weißen, schwach schimmernden
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