Der Zauderberg
meist nur allgemeine, unscharfe Konturen. Die unmittelbaren Ziele und Anliegen von heute nehmen wir dagegen klar und detailliert wahr. Abstrakte Ziele wie »Ich will mein Potenzial entwickeln« verfolgen wir mit sehr viel geringerer Wahrscheinlichkeit sofort als konkrete Ziele wie »Ich will dieses Buch lesen«. 11 Ein allgemeines Ziel wie »Ich will mehr Sport treiben« ist sehr viel weniger motivierend als »Ich will eine Stunde laufen«, und »Ich will befördert werden« ist sehr viel schwerer umzusetzen als die konkrete Aufgabe »Ich will diesen Bericht schreiben«. Da wir unsere langfristigen Ziele meist in abstrakte Begriffe fassen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel größer, dass wir sie aufschieben. Zumindest so lange, bis sie sich in kurzfristige Ziele verwandeln, über deren Umsetzung wir konkret nachdenken können. Die Psychologen Nira Liberman und Yaavoc Trope haben sich auf die Erforschung dieses Phänomens spezialisiert, aber im Grunde ist das nichts Neues. Der schottische Philosoph David Hume beschrieb es schon vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten in seinem Traktat über die menschliche Natur. 12
Sie können den Einfluss der Zeit auf Ihre Vorstellungskraft ganz einfach nachprüfen. Nehmen wir an, Sie sollen eine Einkaufstour planen, die Sie in einem Jahr unternehmen. Stellen Sie sich vor, was Sie sich in einem Jahr wünschen könnten. Haben Sie ein klares oder ein verschwommenes Bild? Jetzt denken Sie an das Geld, das just in diesem Moment ein Loch in Ihre Tasche brennt. Wenn Sie dieses Geld heute ausgeben sollten, jetzt, in diesem Moment, was würden Sie sich dann kaufen? Von dem, was Sie in einem Jahr erwerben wollen, haben Sie vermutlich nur sehr vage Vorstellungen. Vielleicht denken Sie an »ein schönes Paar Schuhe« oder »ein gutes Sportgerät«. Solche Ziele sind geisterhaft und vage. Aber die Pläne für Ihre Einkaufstour heute sind wahrscheinlich sehr konkret und fast mit Händen zu greifen. Sie denken nicht einfach nur an »Schuhe«, sondern vielleicht an die Pythonsandalen von Manolo Blahnik, die das Herz jedes Schuhfetischisten höher schlagen lassen. Und Sie denken nicht an irgendein »Sportgerät«, sondern vielleicht an den Titan-Golfschläger von TaylorMade, wie ihn die Profis auf der PGA-Tour schwingen. Wenn Sie diese konkreten und abstrakten Optionen vergleichen, dann wird klar, wie unterschiedlich die Motivation ist, die von ihnen ausgeht. Das ist das dunkle Geheimnis des Aufschiebens: Wir schieben vor allem deshalb auf, weil wir die Gegenwart als etwas Konkretes wahrnehmen und die Zukunft als etwas Abstraktes.
Die Aufschiebeformel
Im Verhalten von Eddie, Valerie und Tom sind wir den unterschiedlichen Zutaten des Aufschiebens begegnet: Erwartung, Wert und Zeit. Je kleiner die Belohnung für eine Aufgabe ausfällt und je geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sie erhalten (je geringer also der Wert oder die Erwartung), desto größer Ihr Widerwille. Und je weiter die Belohnung in der Ferne liegt und je ungeduldiger (oder impulsiver) wir sind, desto geringer unsere Motivation. Wenn wir unser Aufschiebeverhalten so in seine Einzelteile zerlegen, ergibt sich ein völlig neues Bild. Aber es kommt noch besser.
Zunächst müssen wir herausfinden, wie Erwartung und Wert zusammenpassen. Dazu verwenden wir eine Theorie, die auch als »Theorie des voraussichtlichen Nutzens« bezeichnet wird. Vermutlich haben Sie diese Bezeichnung noch nie gehört, aber das Phänomen dürfte Ihnen bestens bekannt sein. Die »Theorie des voraussichtlichen Nutzens« ist die Grundlage der traditionellen Wirtschaftswissenschaften, und jeder Zocker hält sich an sie. Sie besagt, dass wir unsere Entscheidungen treffen, indem wir Erwartung und Wert multiplizieren:
Erwartung × Wert
Stellen Sie sich vor, Sie haben zwei Geldscheinbündel vor sich. Das rechte gebe ich Ihnen bestimmt, das linke vermutlich eher nicht. Wenn Sie mich nun um eines dieser beiden Bündel bitten dürften, für welches würden Sie sich entscheiden? Wahrscheinlich für das rechte, denn Ihre Entscheidung wird durch Ihre Erwartung beeinflusst. Ihre Erwartung bezieht sich in diesem Fall auf die Wahrscheinlichkeit, mit der Sie eine Belohnung erhalten. Wenn Sie die Wahl haben, entscheiden Sie sich für die wahrscheinlichere Belohnung. Aber wie fällt Ihre Entscheidung aus, wenn das sichere rechte Bündel sehr viel kleiner ist als das riskante linke? Vor dieser Entscheidung stehen Sie vermutlich häufiger als Sie denken, zum Beispiel wenn
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