Der Zauderberg
dann einen klareren Kopf haben.
Der Sündenbock für diesen Unterschied zwischen Absicht und Handlung ist die Zeit. Nehmen wir an, für den Weg in die Kneipe brauchen Sie 15 Minuten. Diese Verzögerung ist minimal im Vergleich zu Ihrer Deadline, die noch sehr viel weiter in der Zukunft liegt – 96-mal weiter, um genau zu sein (nämlich 24 Stunden dividiert durch 15 Minuten). Wenn wir dies in die Aufschiebeformel einfügen, bedeutet dies, dass sich die relativen Auswirkungen der Verzögerung fast verhundertfachen. Und da es nichts Wichtigeres gibt als das Hier und Jetzt, ist es kein Wunder, dass Sie Ihre guten Absichten über Bord werfen.
Die Aufschiebeformel in Aktion
Es wäre natürlich schön, wenn Sie nun einfach Ihre eigenen Werte für Impulsivität, Erwartung und Wert einsetzen könnten, um zu wissen, wo Sie selbst stehen. Das ist leider nicht ganz so simpel. Dazu müssten Sie an einem kontrollierten Laborexperiment teilnehmen. Im Labor könnte ich Ihnen Wahlmöglichkeiten vorgeben, Sie Knöpfe drücken oder durch ein Labyrinth rennen lassen, Sie mit Zuckerstückchen belohnen und exakte Werte ermitteln.
Aber es gibt eine andere Möglichkeit, die Aufschiebeformel in Aktion zu sehen: Wir können sie auf einen typischen Aufschieber anwenden. Niemand schiebt so gern auf wie Studenten. Studenten bringen im Durchschnitt ein Drittel ihres Tages damit zu, Arbeit vor sich herzuschieben. Aufschieben ist mit Abstand das größte Problem aller Studenten: Rund 70 Prozent geben an, die Aufschieberitis verursache ihnen häufig Probleme, und nur 4 Prozent behaupten, sie seien nicht davon betroffen. 14 Wenn die Hörsäle der Universitäten mit Aufschiebern gefüllt sind, dann liegt das natürlich daran, dass die Studierenden jung und daher impulsiver sind. Doch auch die Universität selbst ist nicht ganz unschuldig. Da kommen nämlich zwei Dinge zusammen, das jedes für sich genommen schon in der Lage ist, eine Aufschieberitis-Epidemie zu verursachen.
Das erste ist die Seminararbeit. Je unangenehmer eine Aufgabe – je geringer also ihr Wert –, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass die Studierenden sie in Angriff nehmen. Schreiben macht den wenigsten Menschen Spaß und löst bei vielen sogar Ängste aus. Willkommen im Club. Schreiben ist kein Kinderspiel. George Orwell, Autor der Klassiker 1984 und Farm der Tiere, sagte: »Ein Buch zu schreiben ist ein schrecklicher und kräftezehrender Kampf, wie eine lange, schmerzhafte Krankheit. Um diese Bürde auf sich zu nehmen, muss man schon von einem unwiderstehlichen Dämon geritten werden.« Gene Fowler, Autor von gut zwanzig Büchern und Drehbüchern, sah das ähnlich: »Schreiben ist ganz einfach. Man muss sich nur hinsetzen und auf ein leeres Blatt Papier starren, bis man Blut schwitzt.« Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich William Zinssers Ratgeber Schreiben wie ein Schriftsteller konsultiert, und siehe da, auf Seite 87 gesteht der Autor: »Schreiben macht mir keinen Spaß.«
Bei Seminararbeiten kommt noch die Willkür der Bewertung dazu, die eine geringe Erwartung erzeugt. Ein und dieselbe Arbeit kann von unterschiedlichen Professoren mit 1, 2 oder 3 bewertet werden. 15 Das liegt nicht daran, dass sich die Professoren bei der Benotung keine Gedanken machen, sondern daran, dass die Bewertung grundsätzlich eine schwierige Angelegenheit ist. Sehen Sie sich nur an, wie unterschiedlich die Kampfrichter bei olympischen Turnwettbewerben eine Leistung einschätzen oder wie unterschiedlich Filmkritiken ausfallen. Aus Sicht der Studierenden bedeutet dies, dass ihr Einsatz mit relativ großer Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend gewürdigt wird.
Die Seminararbeit fördert die Aufschieberitis schließlich auch noch, weil der Abgabetermin in weiter Ferne liegt, das heißt, die Verzögerung ist besonders groß. Oft gibt es keinerlei Zwischenschritte: Die Studierenden bekommen das Thema zu Beginn des Semesters und geben die Arbeit am Ende ab. Zunächst ist der Abgabetermin ein Vierteljahr entfernt, doch aus Monaten werden erst Wochen, dann Tage und schließlich Stunden, und plötzlich müssen die Studierenden um eine Verlängerung bitten. Rund 70 Prozent aller Gründe, die für einen überzogenen Abgabetermin oder eine verhauene Prüfung vorgebracht werden, sind Ausreden, denn der wirkliche Grund – die Aufschieberitis – ist nicht akzeptabel. 5a Viele Studierende lesen die Aufgabenstellungen mit dem Blick eines Anwalts und durchsuchen sie nach Formulierungen,
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