Der Zauderberg
Sie die Wahl haben, Ihr Geld in sicheren Staatsanleihen mit niedrigen Zinsen anzulegen oder an der Börse zu spekulieren. Um Ihre Entscheidung zu treffen, müssen Sie nun den Wert mit einbeziehen und sich überlegen, wie viel größer das linke Bündel sein muss, um dieses Risiko einzugehen. Je nach der Dicke des linken Bündels und der Wahrscheinlichkeit, mit der Sie es bekommen, wählen Sie das eine oder das andere. Mit der Formel Erwartung × Wert lässt sich relativ gut vorhersagen, für welches der beiden Bündel Sie sich entscheiden. Sie multiplizieren die beiden und wählen das Bündel mit dem größten Ergebnis. Viele Wirtschaftswissenschaftler sind der Ansicht, sie könnten alles menschliche Verhalten auf diese eine Formel reduzieren. Ihrer Meinung nach treffen Sie jede Ihrer Entscheidungen – ob Sie Milch über Ihre Cornflakes schütten oder Ihrem Kind die Nase putzen – danach, welchen Nutzen Sie davon mit welcher Wahrscheinlichkeit haben. Doch ganz so einfach ist die Sache nun doch nicht.
Die Formel Erwartung × Wert reicht nicht aus, um den Menschen zu beschreiben. Ein Haken ist zum Beispiel, dass diese Formel einen rationalen Entscheidungsprozess voraussetzt – für irrationale Handlungen ist hier kein Platz. Egal ob Sie ein Eis essen oder sich Heroin spritzen, aus Sicht der Wirtschaftswissenschaftler handelt es sich um eine gleichermaßen rationale Entscheidung. Irrationale Verhaltensweisen wie Aufschieben gibt es laut dieser Theorie nicht. Die Tatsache, dass Sie gerade ein Buch über dieses Thema lesen, lässt allerdings gewisse Zweifel an dieser Theorie aufkommen. 13 Die Vorstellung, die sich die traditionellen Wirtschaftswissenschaftler vom Menschen machen, ist nicht vollkommen falsch, doch sie ist unvollständig. Wir reagieren dauernd auf Anreize (Wert) und kalkulieren dabei, ob wir sie für erreichbar halten oder nicht (Erwartung). Aber das ist noch nicht alles. Es kommt nämlich noch ein dritter Faktor hinzu: die Zeit.
Wirtschaftswissenschaftler müssen ihre Vorstellung vom menschlichen Verhalten revidieren und den Faktor Zeit mit einbeziehen. Ich bin übrigens nicht der Erste und Einzige, der das so sieht. Im Jahr 1991 hielt der Nobelpreisträger George Akerlof einen wegweisenden Vortrag vor der American Economic Association. Darin forderte er seine Zunft auf, sich bewusst zu machen, dass der Mensch momentane Kosten sehr viel schmerzhafter empfindet als zukünftige Kosten – ein völlig irrationales Verhalten. Ein Jahr darauf veröffentlichte der Wirtschaftsexperte George Loewenstein ein Buch mit dem Titel Choice Over Time (zu Deutsch sinngemäß: »Wahl und Zeit«), in dem er der Frage nachgeht, wie die Wirtschaftswissenschaften den Faktor Zeit in ihren Modellen berücksichtigen können. Seither entstand ein Gebiet mit dem Namen Verhaltensökonomik, das den Faktor Zeit mit einbezieht und sich auch mit dem Thema Aufschieben beschäftigt. Ted O’Donoghue, Matthew Rabin und andere Vertreter dieses neuen Gebiets korrigieren das alte Modell, indem sie ihre Beobachtungen aus der wirklichen Welt einfließen lassen. Das ist ungefähr so, als würde man beim Autofahren die Wahrnehmung der Augen berücksichtigen – keine schlechte Idee.
Die Vertreter der Verhaltensökonomik verwenden eine Zeitvorstellung, die aus der Verhaltenspsychologie stammt. Verhaltenspsychologen haben eine kleine Gleichung entwickelt, mit der sie das Verhalten von Mäusen wie Menschen vorhersagen können. In ihrer einfachsten Form sieht diese Gleichung so aus:
Erwartung × Wert
Verzögerung
Weil das Produkt aus Erwartung × Wert durch die Verzögerung dividiert wird, bedeutet dies, dass Ihre Motivation umso geringer wird, je weiter etwas in der Zukunft liegt.
Die Bedeutung des Faktors Zeit ist ganz einfach zu verstehen. Nehmen wir an, ich bin der Moderator einer Gameshow mit dem Namen Jetzt oder später. Sie sind ein Teilnehmer und haben gerade 1000 Euro gewonnen. Ich gebe Ihnen das Geld in Form von zehn knisternden 100-Euro-Scheinen, die Sie zufrieden in Ihren Geldbeutel stecken. Doch dann biete ich Ihnen für das Bargeld einen Scheck an, den ich Ihnen in einem Jahr auszahle. Und hier die Frage: Wie hoch muss die Summe auf dem Scheck sein, damit Sie in Ihren Geldbeutel greifen, mir die zehn Hunderter zurückgeben, den Scheck nehmen und 365 Tage warten, um ihn einzulösen? Ich habe dieses kleine Gedankenexperiment mit Hunderten Studierenden in meinen Kursen durchgespielt. Wenn sie aus dem Bauch heraus
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