Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zauderberg

Der Zauderberg

Titel: Der Zauderberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr. Piers Steel
Vom Netzwerk:
die im Entferntesten mehrdeutig sein könnten, um dann behaupten zu können, sie hätten die Frage nicht verstanden. 16
    Die Seminararbeit betrifft also sämtliche Variablen unserer Aufschiebeformel: Sie sind eine Qual (geringer Wert), die Belohnung ist ungewiss (geringe Erwartung), und der Abgabetermin ist in weiter Ferne (große Verzögerung). Aber das ist noch längst nicht alles. Als wäre die Hürde der Seminararbeit nicht schon hoch genug, gibt es wohl kaum einen Ort, an dem sie so schwer zu schreiben ist wie in einem Studentenwohnheim oder einer Wohngemeinschaft. Damit kommen wir zu der zweiten trödelfördernden Einrichtung: dem Umfeld, in dem die Arbeit entstehen soll.
    Studentenwohnheime und WGs sind wahre Aufschiebehöllen und bieten schier grenzenlose Versuchungen, dem Schreibtisch fernzubleiben. Anders als die Seminararbeit verheißen diese Versuchungen sofortige, verlässliche und intensive Belohnung. Ein schönes Beispiel sind die universitären Clubs und Vereine. An meiner Universität gab es mindestens tausend, die jedes nur erdenkliche politische, sportliche, spirituelle oder Freizeitbedürfnis abdeckten, angefangen vom »Stricken für den Frieden« bis zu den »Freunden von aussterbenden Sprachen«. In diesen Gruppen findet man neue Kumpel, die man natürlich besser kennenlernen möchte – am besten in den vielen Kneipen und Cafés in der Nähe des Universitätsgeländes. Mit diesen Freunden besucht man dann auch einige der Dutzenden von Veranstaltungen, von Lyriklesungen bis zu Abtanzfeten, die Woche für Woche angeboten werden. Dank der Kameradschaft, dem Alkohol, dem Sex und vor allem der Freiheit, dies alles in vollen Zügen genießen zu können, ist das studentische Leben für viele ein paradiesischer Zustand, in dem alle Regeln außer Kraft gesetzt sind. Hier können sie all die Freuden des Erwachsenendaseins ausleben, ohne dessen Verantwortung übernehmen zu müssen. In dem Moment, in dem sie einen Hörsaal betreten, beginnt daher ein Konflikt. Selbst Tenzin Gyatso, besser bekannt als der 14. Dalai Lama, blieb nicht verschont und berichtet: »Ich habe nur fleißig gearbeitet, wenn eine große Prüfung oder ein dringender Abgabetermin anstand.«
    Eddie, Valerie und Tom erlebten während ihrer Studienzeit dieselben Konflikte. Sie waren gute Freunde, denn sie haben viel gemeinsam, und vor allem verbringen sie ihre Zeit lieber mit Freunden als mit der Arbeit. Trotzdem unterscheiden sie sich. Valerie ist sich darüber im Klaren, dass sie nicht die Klügste ist, doch sie weiß auch, dass sie zwei Kardinaltugenden hat: Sie ist besonnen und verantwortungsbewusst. Sie ist zwar nicht sonderlich ehrgeizig, aber sie hat ihre Zukunft relativ deutlich vor Augen und kann sich gut vorstellen, eines Tages von der Universität abzugehen und ihren Traumjob zu finden. Tom ist ehrgeiziger und selbstbewusster als seine beiden Freunde, aber er ist auch der impulsivste der drei. Mit seiner Eitelkeit und Spontaneität provoziert er bei vielen Kommilitonen eine Mischung aus Neid und Abneigung. Eddie ist dagegen weder ehrgeizig noch selbstbewusst. Er wurde von seiner Familie zum Studium gedrängt und ist sich unsicher, ob er an der Universität überlebt, geschweige denn Erfolg hat. Aber im Grunde ist ihm das auch egal. Er fühlt sich wohl in seiner Rolle als Faulpelz.
    Eines Morgens zu Beginn des Herbstsemesters kommen Eddie, Valerie und Tom in mein Seminar »Einführung in die Motivationspsychologie« und erfahren, dass sie eine Seminararbeit schreiben müssen, die am 15. Dezember fällig ist. In der folgenden Grafik können Sie die Motivation der drei sowie das Datum ablesen, an dem sie mit der Arbeit anfangen. Ihre gemeinsame Tendenz zur Freizeitgestaltung (dargestellt durch die gestrichelte Linie) ist zu Beginn des Semesters besonders groß und nimmt gegen Ende hin ab, vor allem, weil es immer weniger Gelegenheit dazu gibt und die Schuldgefühle immer größer werden. Valerie, die am wenigsten impulsive der drei, fängt am 29. November mit der Arbeit an und ist damit die Erste (durchgezogene Linie). Eddie und Tom brauchen eine Woche länger, um sich auf den Hosenboden zu setzen.
    Betrachten wir das Verhalten der drei durch die Brille der Aufschiebeformel. Obwohl Tom mehr Selbstbewusstsein (hohe Erwartung) und Ehrgeiz (hoher Wert) mitbringt als Eddie, ist er auch impulsiver, was zur Folge hat, dass er sich erst gegen Ende wirklich motiviert fühlt (die gewürfelte Linie). Während Valeries Motivation so

Weitere Kostenlose Bücher