Der Zauderberg
und Tom? Ich erwartete keine absolute Entsprechung, da die Gleichung weder Wochenenden noch Herbst- oder Osterferien einbezieht, aber ich hoffte, eine gewisse Ähnlichkeit zu entdecken. Das Ergebnis sehen Sie in der Grafik unten. Die gepunktete Linie ist ein angenommener stetiger Arbeitsrhythmus, die schwarze Linie repräsentiert das, was wir in unseren Kursen beobachteten, und die graue Linie ist das, was die Aufschiebeformel vorhersagt. Ich glaube, die Kurve spricht für sich. 17
Wie’s weitergeht
Vielleicht empfinden Sie dieses mathematische Modell als bedrohlich. Menschen sind schließlich keine Maschinen. Das kann ich verstehen. Wir sind sehr viel komplizierter und facettenreicher, als dass wir uns in eine mathematische Gleichung pressen lassen könnten. Jeder Mensch schiebt aus ganz eigenen Gründen auf. Was genau Sie motiviert, was Sie zu Tode langweilt oder was Ihre Laster sein mögen, das alles setzt sich zu Ihrem ganz persönlichen Aufschiebeprofil zusammen. Die Aufschiebeformel erhebt gar nicht den Anspruch, Sie umfassend zu beschreiben, sie will lediglich eine Skizze bieten und mit einfachen Mitteln viel erklären.
Die Aufschiebeformel bringt in knappster Form die neurobiologischen Vorgänge auf den Punkt, die hinter der Aufschieberitis stecken. Ich bin der Erste, der zugibt, dass Biologie und Mathematik nie exakt übereinstimmen können. Ein Stadtplan kann beispielsweise die Wirklichkeit auch nie bis ins kleinste Detail abbilden, es wäre vollkommen unmöglich, Baustile und Hydranten erfassen zu wollen. Der Stadtplan konzentriert sich vielmehr auf Straßen und Autobahnen, um eine Orientierung zu ermöglichen. Wenn Sie dieses grobe Raster nicht befriedigt, dann haben Sie etwas Geduld. Im nächsten Kapitel gehen wir ins Detail.
Kapitel 5
Der Preis der Ablenkung
Was wir verpassen, versäumen und verlieren
Wir haben unterlassen, was wir tun sollten, und wir haben getan, was wir unterlassen sollten.
Anglikanisches Gebetbuch
Der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge ist legendär für seine beispiellose Aufschieberitis. Er war einer der großen romantischen Dichter und hätte der größte werden können, doch dieser Titel geht an seinen einstigen Freund, den fleißigen William Wordsworth. Schuld ist allein Coleridges tragische Verzettelei. Er schob seine Arbeit und seine Verpflichtungen oft jahrzehntelang vor sich her. Selbst seine bekanntesten Gedichte tragen die Spuren der Aufschieberitis. »Kubla Kahn« und »Christabel« wurden als Fragmente veröffentlicht, zwanzig Jahre nachdem er sie begonnen hatte. »Der alte Seefahrer« wurde zwar fertig, kam aber mit fünf Jahren Verspätung in den Druck.
Seine Familie, seine Freunde und sogar Coleridge selbst erkannten das Problem. Sein Neffe und Herausgeber Henry schrieb, sein Onkel sei »Opfer seiner Trägheit«, und Coleridge selbst bezeichnet seine Saumseligkeit als »große moralische Schwäche … Freiheitsliebe und Freude an der Spontaneität erklären diese Aufschieberei, aber sie entschuldigen sie nicht«. Die beste Beschreibung stammt von seinem Freund Thomas de Quincey, der Coleridge kaum nachstand und wie dieser stark drogenabhängig war (weshalb er seine Autobiografie treffend Bekenntnisse eines englischen Opiumessers nannte). De Quincey schrieb:
Die übermäßige Saumseligkeit kennzeichnete Coleridges Leben bis in den Alltag hinein. Keiner seiner Freunde und Bekannten verließ sich je darauf, dass er eine Verabredung einhielt. Obwohl er stets beste Absichten hegte, gab niemand etwas auf seine Aussagen, die die Zukunft betrafen. Wer ihn zum Essen oder einer Gesellschaft einlud, schickte selbstverständlich eine Kutsche und holte ihn persönlich ab oder ließ ihn abholen. Waren Briefe nicht von einer weiblichen Hand geschrieben, die seine Zuneigung und Wertschätzung genoss, warf er sie ungeöffnet in eine Schublade.
Fast ebenso legendär wie Coleridges Aufschieberitis waren seine Ausreden. Seine Briefe sind voller Entschuldigungen, oft reiht sich eine an die andere. Ein Beispiel sind seine Schreiben an den Verleger Mr. Cottle, der die Rechte an einer Gedichtsammlung gekauft hatte – leider im Voraus. Besondere Erwähnung verdient auch jener mysteriöse »Mann aus Porlock«, der an Coleridges Tür klopfte und ihn während der Niederschrift seines Gedichts »Kubla Kahn« unterbrach, das auf einem Opiumtraum basierte. Das Gedicht besteht nicht wie geplant aus zweihundert oder dreihundert Zeilen, sondern nur aus vierundfünfzig. Der
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