Der Zauderberg
Sie die negativen Folgen vermutlich durch andere Eigenschaften wie beispielsweise Ihre Intelligenz wettmachen. Verfallen Sie nicht in den Irrglauben, Ihr Laster könnte Ihr Erfolgsgeheimnis sein. Ich will ja nicht den ersten Stein werfen, aber… Bei unzähligen Prüfungen habe ich erst auf den letzten Drücker mit dem Lernen angefangen und versucht, die verlorene Zeit wieder gutzumachen, indem ich Nächte durchgebüffelt habe. Dank dieser Strategie bin ich einmal während einer Französischprüfung eingeschlafen und habe bis heute Bammel vor Fremdsprachen. Komisch, dass viele Leute ähnliche Geschichten erzählen können.
Studierende bringen etwa ein Drittel des Tages mit Freizeitaktivitäten zu, die sie selbst als Vermeidungsstrategien bezeichnen. 5 Selbst an den beiden Tagen vor einer Prüfung vertreiben sie sich im Durchschnitt acht Stunden lang mit solchen Beschäftigungen die Zeit. 6 Die Unfähigkeit zur Zeiteinteilung ist eines der am häufigsten genannten Probleme und einer der wichtigsten Gründe für einen Studienabbruch. 7 Dieser Zusammenhang wird eher noch gravierender, wenn mehr auf dem Spiel steht: Schlechtes Zeitmanagement ist einer der Hauptgründe, warum Doktoranden ihre Promotion nicht abschließen und ihr einziger Titel der »Cand.« (Kandidat) bleibt. 8 Diese Cands sind derart verbreitet, dass der Zeichner Jorge Cham ihnen eine ganze Komikserie mit dem Titel PhD-Comic widmet, in der er die Vermeidungsstrategien der Doktoranden durch den Kakao zieht. Es ist eigentlich kaum nachzuvollziehen: Nachdem die Doktoranden einen heiß begehrten Studienplatz ergattert, das intensive Kursprogramm absolviert, vielleicht sogar schon das Material für ihre Dissertation recherchiert haben und nur noch ihre Doktorarbeit schreiben und präsentieren müssen, gibt die Hälfte die Arbeit nicht ab. Und das trotz der attraktiven Belohnung, die den Titelträgern winkt (zum Beispiel ein um 30 Prozent höheres Gehalt). 9 Schuld ist meist nur die Aufschieberitis.
Im Beruf werden die Konsequenzen sogar noch gravierender. Nach Einschätzung ihrer Kollegen sind 63 Prozent aller Aufschieber unterdurchschnittliche Minderleister. Von Beginn an fällt es ihnen schwer, ihre berufliche Laufbahn anzupacken, weshalb sie die Arbeitsplatzsuche vertagen. Wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren, bleiben sie länger arbeitslos. 10 Und wenn sie schließlich einen Job finden, stellen sie schnell fest, dass die Arbeitswelt weniger tolerant ist als die Schule oder die Universität. Es steht mehr auf dem Spiel, und die Vorgesetzten und Kunden sind weniger bereit, Aufschub zu gewähren. Das musste beispielsweise Michael Mocniak, Chefsyndikus bei Calgon Carbon erleben, der entlassen wurde, weil er es versäumt hatte, Rechnungen zu verschicken – es handelte sich um die Kleinigkeit von 1,4 Millionen US-Dollar. 11 Im Beruf sind die Projekte meist umfangreicher und lassen sich nicht mehr auf den letzten Drücker erledigen; die Arbeit ist unberechenbarer, und es kann Ihnen passieren, dass Sie kurz vor der Deadline plötzlich eine andere dringende Sache auf den Tisch bekommen. Trotz ihrer charakterlichen Schwäche verdienen immer noch 37 Prozent aller Aufschieber mehr als der Durchschnitt – wer die Vorstandschefin am Frühstückstisch »Mama« nennt oder den Aufsichtsratsvorsitzenden »Papa«, der bringt es im Unternehmen einfach etwas weiter, egal welche Laster er mitbringt. Andere Aufschieber kommen in Berufen unter, in denen es kaum möglich ist, aufzuschieben – Berufe mit täglichen Deadlines wie Verkauf oder Journalismus. Wenn alles heute fällig ist, gibt es kaum Spielraum für Ablenkungsstrategien.
Beim finanziellen Gesamtergebnis schlägt die Aufschieberitis schließlich noch stärker durch. Nach eigener Einschätzung halten sich nur 29 Prozent aller Aufschieber für erfolgreich, während sich der Rest als unterdurchschnittlich erfolgreich bezeichnet. Die Aufschieberitis schlägt sich in dutzenderlei Weise auf dem Konto nieder. 12 Zum Beispiel verdient das amerikanische Finanzministerium Jahr für Jahr allein 500 Millionen US-Dollar an zu spät abgegebenen Steuererklärungen. Viele Aufschieber vergessen schlicht, die auf den letzten Drücker ausgefüllten Steuererklärungen zu unterschreiben, und müssen Strafzinsen berappen. 13
Die Saumseligkeit beeinträchtigt Ihr Soll und Haben aber auch noch auf andere Weise. Ersparnisse wachsen durch ein Phänomen, das Albert Einstein als das achte Weltwunder bezeichnete: den Zinseszins.
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