Der zehnte Planet
großen weißen Blumen sahen Rosen ähnlich. Er bückte sich. Die Blumen strömten einen feinen Vanillegeruch aus. Unsichtbare Vögel flogen auf; ihre Silhouetten durchkreuzten das Mondlicht.
»Man muß auf den Sonnenaufgang warten«, wiederholte der Gelehrte bestimmt.
Die Monde bewegten sich mit einer bemerkbaren Geschwindigkeit am Himmel. Der Gelehrte schätzte ihre vermutliche Entfernung vom Zehnten, ihre Größe und ihre Umlaufsgeschwindigkeit. Die nach dem Osten ziehenden Wolken verdeckten die beiden Trabanten des Zehnten.
»Wie spät ist es?« wollte der Gelehrte wissen und blickte auf seinen linken Arm, sich bemühend, die leuchtenden Zeiger des Chronometers zu unterscheiden. Aber das Chronometer am Arm fehlte . . . »Wie ist das möglich?« staunte er. »Habe ich es denn in meinem Arbeitszimmer gelassen? Vielleicht habe ich es verloren?«
Das Suchen in der Dunkelheit war zwecklos. Dann mußte man eben die Zeit nach den Sternen feststellen. Auf der Erde stand das Himmelszifferblatt immer zu seiner Verfügung. Wenn man sich vorstellt, daß der Polarstern das Zentrum des Zifferblattes ist, dann ersetzen die zwei äußern Sterne des Großen Bären, Alpha und Beta, durch eine angenommene Gerade verbunden, ausgezeichnet den Uhrzeiger. Man muß nur wissen, daß sich der Zeiger der Himmelsuhr, von der Erde aus gesehen, von rechts nach links bewegt und nicht umgekehrt, wie auf der richtigen Uhr. Man muß außerdem wissen,daß dieser Zeiger um Mitternacht des 20. März 11½ Uhr zeigt, um Mitternacht des 20. April wird er 10½ Uhr zeigen, am 20. Mai 9½ Uhr usw. Jeder Zeitraum von einer Stunde auf dem Himmelszifferblatt gleicht zwei Stunden der irdischen Zeit, und an jedem Tag rückt dieser Himmelszeiger vier Minuten vor.
Der Gelehrte erinnerte sich ausgezeichnet, daß, als er auf der Erde die Stufen an der Eingangspforte hinunterging, der Himmelszeiger etwa 4 Uhr auf dem Himmelszifferblatt anzeigte.
Heute ist der 20. Oktober. Das bedeutet, daß er mit Jura den Planetoplan ungefähr um Mitternacht bestiegen hatte. Der Flug dauerte 28 Minuten. Folglich sind sie um ½1 Uhr nachts nach irdischer Zeit auf dem Zehnten angekommen. Welche Stunde zeigt aber jetzt die Himmelsuhr?
Doch die Sterne am Himmel zeigten jetzt keineswegs das, was der Gelehrte erwartet hatte.
Die Himmelsuhr war nicht in Ordnung. Der von der Erde aus als unbewegliches Zentrum erscheinende Polarstern, um den das sichtbare Himmelsgewölbe kreist, hat sich nach rechts verlagert.
»Sehr angenehm«, in der Aufregung rieb sich der Gelehrte die Hände. »Stellt es sich heraus,daß, der Polarstern schon aufgehört hat, ein Punkt zu sein, gegen den sich die Drehachse der Erde lehnt? Kreist er selbst schon mit andern Sternen um den neuen Polarstern? Wir werden es uns gleich überlegen . . . Früher stand er ungefähr hier . . . So, so, ich danke schön. Alles ist klar. Auf dem zehnten Planeten spielt der Stern Wega, Alpha in der Leier, die Rolle des Polarsterns . . . So wird es auch nach dreizehntausend Jahren bei uns auf der Erde sein. Aber der Alte, der Polarstern, samt der ganzen Himmelssphäre kreist um den hiesigen Polarstern nach dem Gang des Uhrzeigers, und das bedeutet, daß sich der Zehnte in umgekehrter Richtung um seine eigene Achse dreht, also von rechts nach links . . .«
Der Gelehrte stand, das Gesicht der polaren Wega zugewandt, das heißt nach Norden; rechts war Osten, links Westen. Wenn sich der Zehnte, im Gegensatz zur Erde, um seine Achse von Osten nach Westen dreht, so muß die Sonne hier aufgehen . . .
»Im Westen«, sprach der Gelehrte feierlich und wandte sich nach links.
Hohe Berge türmten sich dort auf, spitz, gigantisch, wie eine scharf abgezogene Säge. Langsam verloschen die Sterne über ihren Zacken. Ein zarter rosa Schimmer erhob sich hinterden Bergen, als ob dort ein sonderbar feines, strahlendes Gewebe ausgebreitet würde . . . Zwischen zwei Zacken erschien der goldene Rand der Sonne.
»Sei gegrüßt!« rief der Gelehrte der im Westen aufgehenden Sonne zu.
Er rief diese Worte freudig, denn er war froh, weil er die Überzeugung gewonnen hatte, daß er sich wirklich auf dem neuen Planeten befinde und viele interessante Beobachtungen machen werde. Manches hatte er nun schon über den Zehnten erfahren, was Jura in seinen Berechnungen nicht voraussehen konnte.
Plötzlich hatte der Gelehrte das Gefühl, daß jemand hinter ihm stehe. Er wandte sich um.
XI
Aber niemand war da. Er befand sich allein auf dem von der Sonne
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