Der zehnte Richter
natürlich eine Imbißpassage. Jedesmal, wenn Ben hindurchging, wurde ihm schlecht.
Lisa und Ben wichen der Masse der Touristengruppen aus und sicherten sich einen Tisch in der Ecke der Passage. »Alles in Ordnung?« fragte Lisa, als sie Ben in seinen Pommes frites stochern sah. »Klar. Ich muß dir bloß etwas beichten.«
»Augenblick mal. Wenn du mir erzählen willst, daß du dich in mich verliebt hast, muß ich mich vielleicht übergeben.«
»Nein, das ist es nicht«, sagte Ben. »So sehr du's dir auch wünschst.« Er wischte sich die Hände an einer Papierserviette ab. »Erinnerst du dich an Rick? Einen von Hollis' alten Mitarbeitern?« Lisa nickte. »Vor ungefähr drei Wochen hab' ich Rick im Vertrauen das Ergebnis der CMI-Sache erzählt. Was ein paar Tage später geschehen ist, weißt du - Maxwell hat sein gesamtes Vermögen auf einen Sieg gesetzt. Als ich daraufhin versuchte, Rick zu finden, war er verschwunden.« Lisa starrte ihn mit offenem Mund an. »Rick Fagen war zu keiner Zeit Mitarbeiter am Obersten Gericht. Sein Telefonanschluß ist stillgelegt; er ist aus seinem Apartment ausgezogen; er hat sich in Luft aufgelöst.«
»Willst du mich verarschen?« Lisa hielt noch immer ihr Sandwich in der Hand. »Warum zum Teufel hast du ihm denn das Votum verraten?«
»Wir haben einfach so herumgeredet«, antwortete Ben abwehrend. »Er hat gesagt, er sei neugierig auf die Sache, und ich hab' nachgegeben. Jedesmal, wenn wir einen Rat brauchten, hat er uns geholfen. Ich konnte einfach nicht nein sagen.«
»Aber man darf ein Urteil doch auf keinen Fall ausplaudern«, sagte Lisa mit gehobener Stimme.
»Hör mal, ich hab' Mist gebaut. Das weiß ich«, erwiderte Ben. »Aber er hat mich total eingewickelt. Glaub mir, es wäre dir auch passiert. Es war die perfekte Falle.«
»Ich kann's einfach nicht glauben.«
»Lisa, jetzt beruhige dich doch. Ich hab' dir das erzählt, weil ich dir vertraue. Du wirst doch nichts verraten, oder?«
Lisa legte ihr Sandwich auf den Teller und sah ihren Kollegen an. »Das ist eine ernste Sache, Ben. Wir können das nicht einfach aussitzen.«
»Ich weiß. Aber bis ich beweisen kann, daß Rick tatsächlich was weitergegeben hat, will ich mich bedeckt halten. Nathan läßt ihn durchs State Department überprüfen, und Eric erkundigt sich bei seinen Redaktionskollegen über das Apartmenthaus, in dem Rick gewohnt hat.«
»Wir sollten mit Hollis sprechen.«
»Hollis will ich nun gerade nicht einweihen«, sagte Ben mit Nachdruck. Er beugte sich zu Lisa. »Glaub mir, ich hab' die ganze Nacht deswegen wach gelegen. Wenn ich zu Hollis gehe, werfen sie mich raus. Selbst wenn ich nichts Böses im Sinn hatte, habe ich doch den Ehrenkodex verletzt. Und wenn man mich rauswirft, bin ich erledigt.«
Nach einer langen Pause fragte Lisa: »Warum hast du mir das alles erzählt?«
»Weil ich nicht will, daß auch du noch Schaden erleidest. Ich weiß ja nicht, ob Rick alle Mitarbeiter im Visier hat oder ob ich sein einziges Arschloch des Jahres bin. Ich erwarte nicht, daß du für mich lügst, und ich will auf gar keinen Fall, daß du Probleme be- kommst. Du solltest es nur wissen, weil wir Freunde sind.«
Lisa schwieg einen Augenblick. »Dann sind diese Blumen, die du gestern bekommen hast - nicht von deiner Mutter, oder?«
»Sie sind von Rick«, sagte Ben. »Ich wollte es dir schon gestern sagen, aber ich konnte -«
»Hast du den Korb nach Wanzen abgesucht?«
»Wie bitte?«
»Du weißt schon - Wanzen, Abhörgeräte.«
»Glaubst du etwa -«
»Laß uns von hier verschwinden«, sagte Lisa, schob ihren Stuhl zurück und packte ihre Tasche.
Die beiden Kollegen eilten die Rolltreppe hoch und rannten aus dem Bahnhof. Rick, der sie von der gegenüberliegenden Ecke der Imbißpassage aus beobachtete, lehnte sich zurück. »Wo wollen sie hin?« fragte er.
»Das hab' ich nicht verstehen können«, sagte Ricks Partner, während er sich an den Tisch setzte. »Aber hast du die Panik auf ihren Gesichtern gesehen? Sie wissen gar nicht, wo sie hinrennen sollen.«
Rick grinste. »Das Komische daran ist, daß es noch schlimmer für sie werden wird.«
Ben und Lisa eilten wortlos die First Street hinunter, bis sie wieder im Gerichtsgebäude waren. »Na, meine Lieben«, fragte Nancy, als sie an ihrem Schreibtisch vorbeikamen, »wie war euer Mittagessen?« »Gut«, erwiderte Ben. »Prima«, sagte Lisa.
Die beiden hasteten in ihr Büro und schlugen die Tür hinter sich zu. Ihr erstes Ziel war der Aktenschrank,
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