Der zehnte Richter
die Begründung, den Stift für Korrekturen bereit. Langsam und sorgfältig prüfte sie jede Seite, um sie umgedreht wieder abzulegen. Nach fünfzehn Minuten legte sie die letzte Seite auf den Stapel und sah auf.
»Na?« fragte Ben und zupfte an seinem Croissant. »Was meinst du?«
»Ben, das ist eine unglaubliche Leistung.« Lisa drehte den Stapel um und schob die Seiten zusammen. »Normalerweise muß ich deine Entwürfe von Anfang bis Ende zerlegen. Und jetzt hab' ich nur zweimal etwas angemerkt.«
»Dreimal, genauer gesagt.« Ben ging zu Lisas Schreibtisch, ergriff den schmalen Stapel Papier und suchte nach ihren Korrekturen. »Es waren bloß grammatische Sachen.« Lisa lehnte sich zurück. »Ich staune. Dieser Entwurf sieht aus wie eine unserer dritten Überarbeitungen.«
»Diesmal hab' ich mich eben angestrengt.«
»Warum zum Teufel strengst du dich nicht immer so an? Du machst die Sache ja auch sonst ganz ausgezeichnet, aber das hier ist ein absolutes Endprodukt. Wahrscheinlich hast du uns einen kompletten Arbeitstag erspart.«
»Es war ein leichter Fall«, erwiderte Ben. »Ist also nicht der Rede wert. Unter Druck arbeite ich eben gut.«
»Ich sollte dir wohl öfter die Leviten lesen.« Lisa stand auf, nahm Ben die Seiten ab und legte sie in einen von Hollis' braunen Aktenordnern. »Ich werde das zu Hollis rübertragen, wie es ist. Wenn's gut geht, können wir es heute Nachmittag abschließen.«
»Wunderbar«, sagte Ben und holte seinen schwarzen Mantel aus dem Garderobenschrank. »Ich muß noch in das Restaurant, bin aber in einer Stunde zurück.«
»Wegen morgen?«
»Richtig. Wie die Sache steht, will ich nichts dem Zufall überlassen.«
Um halb vier kam Lisa ins Büro zurück. »Geschafft. Wir sind fertig mit Russell«, verkündete sie und warf die siebzehn Seiten auf Bens Schreibtisch.
»Hat es ihm gefallen?«
»Ob es ihm gefallen hat? Laß es mich mal so ausdrücken: Einmal mußte er sich sogar den Speichel abwischen, der ihm von der Unterlippe tropfte.«
»Sei mal ernst.«
»Ganz ohne Spaß, Hollis war begeistert. Er hat gesagt, alles sei gut begründet und genauso aufgebaut, wie er es wollte. Besonders hat ihm der Schluß gefallen, wo du die Argumentation des Sondervotums einen Versuch nennst, den unergründlichen Ozean der Logik mit einem Fingerhut auszuschöpfen«
»Das läßt er stehen? Ich war mir sicher, daß er das streichen würde. Sonst streicht er meine als Metaphern getarnten Attacken nämlich immer.«
»Aber diese hat ihm gefallen. Offenbar meint er, daß Osterman mit seinem Sondervotum nicht mehr weiß, was er tut.«
»Verdammt.« Ben schlug auf den Tisch. »Wenn ich gewußt hätte, daß er für Wortspiele offen ist, hätte ich mir ja noch was viel Besseres einfallen lassen. Eigentlich hatte ich sowieso vor, zu schreiben, das Sondervotum versuche, auf das Inferno des gesunden Menschenverstands zu pinkeln .«
»Ich glaube nicht, daß das so gut angekommen wäre«, meinte Lisa.
»Warum nicht? Glaubst du etwa nicht, daß er der Parallele zustimmen würde, die ich zwischen gesundem Menschenverstand und Feuer ziehe?«
»Ich glaube bloß nicht, daß Hollis als der erste Richter in die Geschichte eingehen will, der in einem seiner Voten das Wort pinkeln verwendet.«
»Vielleicht hast du recht.« Ben blätterte in den siebzehn Seiten. »Also, was hat Hollis noch gesagt?«
»Eigentlich gar nichts. Er ist froh, daß wir mit Russell fertig sind, weil er meint, daß Grinnell fast sicher heute Abend schon entschieden wird.«
»Woher weiß er denn, daß ihm die Urteilsbegründung zufällt?«
»Er hat schon mit Moloch und Kovacs gesprochen, und die beiden wollen die Finger davon lassen. Ob er zur Mehrheit oder zur Minderheit gehört, Hollis wird der dienstälteste Richter sein und damit die Begründung schreiben.«
»Ist schon raus, ob Veidt die Seite gewechselt hat?«
»Das werden wir morgen wissen. Hollis sagt, daß Veidt heute Abend mit Osterman und Blake zum Essen geht.«
»Ah, da wird ein weiterer Fall am Obersten Gerichtshof auf der Grundlage dessen entschieden werden, wie intensiv ein Richter einem anderen ins Ohr flüstert.«
»Willkommen in Washington.«
»Ach, danke sehr«, sagte Ben. »Du bist politisch so unendlich abgebrüht. Jetzt weiß leider auch ich, wie diese Stadt funktioniert. Und ich war törichterweise immer der Ansicht, unser Land sei eine Demokratie.«
»Hör mal, als ich in meinem ersten Jurasemester war, hab' ich immer getönt, daß der Oberste
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