Der zehnte Richter
dich ja nicht knechten, aber ich brauche die Urteilsbegründung wirklich.«
»Lisa, ich hab' dir doch schon gesagt, du kriegst sie. Was willst du denn noch?«
»Ich will, daß du sie fertigmachst. Ich glaube dir, daß du daran arbeitest, aber du sitzt jetzt schon über zwei Wochen an dem ersten Entwurf.«
»Nun, es tut mir leid, daß ich in dieser Woche viel zu tun hatte, aber mein Leben ist in letzter Zeit ein bißchen chaotisch.«
»Komm mir bloß nicht damit«, schimpfte Lisa. »Du weißt, daß ich volles Verständnis für alles habe, was du durchmachst. Ich will bloß sagen, daß du dich wirklich anstrengen mußt, auch mal über die Sache hinwegzusehen. Ob es dir paßt oder nicht, dieses Gericht ist wichtiger als alles, was in deinem Leben geschieht.«
Kochend vor Wut schlug Ben eine neue Seite seines Notizblocks auf. »Schön. Ich hab's kapiert. Und jetzt laß mich arbeiten.«
»Ben, hör auf. Was erwartest du eigentlich?« »Wie wär's, wenn du ein bißchen mehr Verständnis zeigen würdest!« brüllte er. »Für dich ist es natürlich leicht, fleißig zu arbeiten, aber ich bin gerade dabei, einen Irren zu jagen. Jedesmal, wenn meine Mutter anruft, hab' ich Angst, daß er sich bei meiner Familie gemeldet hat. Außerdem hat mich ein guter Freund verraten, die Marshals sind hinter mir her - und die Woche ist noch nicht einmal vorbei.«
»Weißt du, ich würde mir wirklich wünschen, daß du die Dinge eine Sekunde aus einer anderen Perspektive als der deinen sehen könntest.«
»Und deine Perspektive ist da wohl die beste, hm?«
»Das meine ich ganz ernst«, sagte Lisa. »Hollis weiß, daß ich die Begründungen immer überarbeite, bevor er sie zu sehen bekommt, und deshalb hat er sich angewöhnt, mich danach zu fragen. Das hat er denn auch die ganze Woche lang getan, und ich hab' ständig Entschuldigungen erfunden. Am Dienstag hab' ich gesagt, wir arbeiten noch an ein paar Punkten. Am Mittwoch hab' ich gesagt, wir hätten sie noch immer nicht gelöst. Gestern bin ich ihm erfolgreich ausgewichen. Aber ich weiß nicht, was ich ihm heute sagen soll. Wir sitzen gemeinsam in der Tinte, und es macht mir nichts aus, zusammen mit dir auf die Schnauze zu fallen, aber das jetzt ist einfach unmöglich von dir. Bei Russell geht es um eine ganz banale Verfahrensfrage. Hollis hat uns genau erklärt, wie er die Sache sieht, und wir kommen einfach nicht weiter. Jetzt mach das einfach mal fertig und gib mir den Text. Selbst wenn du erst die Hälfte hast, kannst du's mir geben, ich schreibe den Rest dann selbst. Hauptsache, ich kann ihm bis heute Abend irgend etwas in die Hand geben. Es tut mir leid, daß ich dich derart überfahren muß, aber im Moment ist das der einzige Weg, um von dir ernst genommen zu werden.«
Ben starrte auf seinen Notizblock. »Tut mir leid«, sagte er kühl. »Du hast vollkommen recht. Bis zur Mittagspause mach' ich's dir fertig.«
»Ben, ich -«
»Du brauchst nichts weiter zu sagen. Du hast recht. Wenn ich es nicht rechtzeitig schaffen konnte, hätte ich es dir übergeben sollen.«
»Genau das wollte ich auch sagen.«
»Bist du bereit für morgen?«
Rick stand vor dem Spiegel und schlang seine Krawatte zu einem perfekten Knoten. »Natürlich bin ich bereit. Die eigentliche Frage ist: Wird Ben bereit sein?«
»Du weißt ja, daß er hinter dir her ist.« Unzufrieden mit der Länge seiner Krawatte, löste Rick den Knoten und begann von neuem. »Von mir aus kann er machen, was er will. Ich bin gänzlich unbesorgt.«
»Wie kannst du bloß so selbstsicher sein?« Rick wandte sich vom Spiegel ab. »Weil ich über Ben Bescheid weiß. Nach der Katastrophe mit Eric wird er es schwer haben, mein Angebot abzulehnen.« Um viertel vor eins kehrte Lisa mit einer kleinen braunen Papiertüte ins Büro zurück, aus der sie zwei Becher Kaffee, ein Stück Gebäck und ein Schokoladencroissant zog. »Mittagspause. Greif zu«, sagte sie und reichte Ben das Croissant und einen der Becher.
Zwanzig Minuten später hatte Ben beides noch nicht angerührt. Eine weitere halbe Stunde später löste er endlich den Blick von seinem Monitor. »Da kommt erst einmal eine Urteilsbegründung des Obersten Gerichtshofs«, verkündete er, während der Laserdrucker zu summen begann.
»Toll«, sagte Lisa und ging zum Drucker. Als sie alle siebzehn Seiten eingesammelt hatte, kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück und zückte ihren roten Filzstift. Während Ben von seinem Stuhl aus ihren Gesichtsausdruck beobachtete, las sie
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