Der Zeichner der Finsternis
sie seelenruhig.
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Als wir unsere Räder aufschlossen, sagte ich: »Es geht mich eigentlich nichts an, aber … hattest du mal was mit Dekker?«
Warum konnte ich bloß nie den Mund halten? Sarah war die Einzige, die überhaupt mit mir redete , und ich spielte mich auf wie ihr eifersüchtiger großer Bruder.
»Stimmt.« Sie zog ihr Rad aus dem Fahrradständer. »Das geht dich wirklich nichts an.«
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Das Stadtarchiv war in einer alten, zweistöckigen Mühle am Fluss untergebracht. Als wir hinkamen, stand nur ein einziges Auto auf dem Parkplatz. Der weitläufige Eingangsbereich war mit lauter altem Kram aus der wechselvollen Geschichte von Winter vollgestellt. Es roch ein bisschen muffig.
Die Frau hinter dem Tresen blickte auf und begrüßte Sarah herzlich: »Tag, Schätzchen!« Mir gönnte sie nur einen flüchtigen Blick und fuhr an Sarah gewandt fort: »Wie kommst du mit deiner Recherche voran?«
»Sehr gut. Christian schreibt auch ein Referat und braucht Hilfe.«
»Aha.« Die Frau musterte mich. »Wonach suchst du denn?«
»Nach Mordechai Witek. Mich interessiert vor allem der Mord.«
»Da bist du nicht der Einzige.«
»Im Internet findet man nicht viel darüber.«
Die Frau lächelte verkniffen. »Du warst damals noch nicht auf der Welt und kannst das nicht wissen, aber viele Leute hier sind der Ansicht, dass man die Vergangenheit lieber ruhen lässt. Schlafende Hunde soll man nicht wecken.«
»Ach so. Wo finde ich denn etwas über diese Zeit?«
Ihr Lächeln erlosch, und sie zeigte auf den Nebenraum. »Dort ist das Zeitungsarchiv. Sarah kennt sich schon mit unseren Mikrofilmen und Datenbanken aus. Wir haben zwei Computer-Arbeitsplätze. Aber Punkt fünf mache ich den Laden zu.«
Das war in anderthalb Stunden. Nebenan hingen lauter alte Fotos an den Wänden: von der Fabrik, vom Rathaus und von altmodisch gekleideten Leuten, die an der Hauptstraße auf die Straßenbahn warteten.
»Ist die immer so?«, fragte ich leise. Sarah schüttelte den Kopf. »Warum ist sie dann zu mir so unfreundlich?« Sarah zuckte nur die Achseln.
Das Mikrofilm-Lesegerät war neben ein paar hohen grauen Aktenschränken aufgestellt. Auf einem Schild stand mit Krakelschrift:
Tribune 1/1887–12/1923
. »In den Schubladen sind die Mikrofilme der Zeitung seit der Erstausgabe 1883.« Sarah zog eine Blechschublade auf. Für jeden Jahrgang gab es einen Kasten. »Da drüben bei den Computern stehen die New York Times und das Milwaukee Journal. Wenn du ein bestimmtes Datum suchst, kannst du natürlich auch alle drei Zeitungen durchgehen und vergleichen.« Sarah streifte sich weiße Stoffhandschuhe über, die in einer Schachtel oben auf dem Aktenschrank lagen. Dann holte sie einen beliebigenKasten heraus, stellte das Lesegerät an und zeigte mir, wie man den Film einlegte, vor- und zurückspulte und das Bild vergrößerte. »Es ist eigentlich ganz einfach. Diese alten Zeitungen sind alle ähnlich aufgemacht. Erst kommen die landesweiten Schlagzeilen, dann regionale Neuigkeiten und zum Schluss die Nachrufe. Nach einer Weile weiß man schon, wo man suchen muss.«
»Aha.« Ich fand ja, es klang ziemlich aufwendig. Dafür hatte ich mit den Computerdatenbanken kein Problem. Aber als ich Mordechai Witek eingab, fand ich nur, was ich schon wusste.
»Wer soll das sein?« Sarah blickte mir über die Schulter.
»Ein Maler, der früher in Winter gelebt hat. Er war sogar ziemlich berühmt, jedenfalls eine Zeit lang.«
»Hier in Winter?« Sie las den Wikipedia-Eintrag. »Das wusste ich gar nicht. Ich hab noch nie von ihm gehört.«
»Weißt du noch, was die Frau am Tresen vorhin gesagt hat? Dass man die Vergangenheit ruhen lassen soll und so weiter.« Ich musste an Mrs Krauss denken.
»Okay, aber so ein Mord ist doch etwas Außergewöhnliches. Wenigstens hast du ein Datum. Ich stöbere für mein Referat immer noch in alten Urkunden, um rauszukriegen, wer wann in Dr. Rainiers Villa gewohnt hat.«
Ich bekam einen Schreck. »Mist – ich hab meinen Termin vergessen!«
»Was für einen Termin denn?«
»Äh … bei Dr. Rainier. Sie … Ich sollte heute bei ihr vorbeikommen.«
Sarah zog die Augenbrauen hoch. »Dann ruf sie an.«
»Dein Akku ist doch leer.«
»Miss Maynard hat auch ein Telefon.«
Ich hatte zwar keine Lust, in Hörweite der unfreundlichen Frau zu telefonieren, aber mir blieb wohl nichts anderes übrig. Ich ging also wieder nach vorn und verkündete, ich müsste dringend telefonieren. Zu meiner Erleichterung zeigte
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