Der Zeichner der Finsternis
Miss Maynard auf ein kleines Büro hinter dem Tresen. »Du kannst das Telefon da drinnen nehmen. Ich verlasse meinen Tresen nicht gern.«
»Danke.« Als könnten jeden Augenblick Massen von Besuchern das Archiv stürmen! Ich zog die Tür hinter mir zu, wählte Dr. Rainiers Nummer und hoffte, dass der Anrufbeantworter anspringen würde.
Pech gehabt. »Dr. Rainier.«
»Hallo, hier ist Christian.«
»Wo steckst du, Christian? Ich warte schon eine Viertelstunde auf dich.«
»Tut mir superleid, ich hab’s verschwitzt. Kann ich auch morgen kommen?«
»Hm …« Ich hörte, wie sie in ihrem Kalender blätterte. »Morgen ist leider nichts mehr frei. Schaffst du es heute gar nicht mehr? Später vielleicht? Um viertel nach sechs? Sonst geht es erst am Montag wieder. Aber ich fände es besser, wenn wir uns heute noch sehen.«
Ich überlegte. Das Stadtarchiv schloss um fünf. Bis zu Dr. Rainiers Praxis am anderen Ende der Stadt brauchte ich mit dem Rad eine halbe Stunde. Dann musste ich dort zwar eine Dreiviertelstunde rumsitzen und warten, aber das war schließlich meine eigene Schuld. Ich konnte ja im Wartezimmer schon mit den Hausaufgaben anfangen. »Ja, das passt. Ich warte dann eben ein bisschen. Äh … sind Sie jetzt sauer?«
»Weil du deinen Termin vergessen hast? Keine Sorge. Natürlich könnte ich dir eine Freudsche Fehlhandlung unterstellen und sagen, unterbewusst wolltest du unsere Verabredung verpassen, aber dafür braucht man keine Therapeutin zu sein. Du hattest gestern einen ziemlich anstrengenden Tag.«
Das war noch untertrieben. »Das ist aber nicht der Grund«, sagte ich und meinte es zu meiner eigenen Überraschung ehrlich. »Ich bin gerade im Stadtarchiv und hab die Zeit vergessen.« Ich fasste zusammen, was ich bis jetzt herausgefunden hatte, und setzte hinzu: »Ich dachte, vielleicht finde ich hier irgendwelche Erklärungen für meine Träume.«
Nach einer kurzen Pause erwiderte Dr. Rainier: »Ich habe selbst auch ein bisschen recherchiert. Ich bin gespannt, was du herausfindest, Christian.«
»Was haben Sie denn herausgefunden?«
»Das erzähle ich dir nachher.«
»Okay. Ach übrigens – wie geht’s Mr Witek?«
»Ganz gut. Er wird nach und nach wacher. Sprechen kann er zwar noch nicht, aber er reagiert inzwischen erkennbar auf seine Umgebung.«
Das passte dazu, dass meine Alpträume allmählich verständlicher wurden. Sie waren immer noch bruchstückhaft und verstörend, ein Wirrwarr aus Sinneseindrücken und Bildern. Trotzdem war mir der letzte Traum vorgekommen, als ob er auf einer zusammenhängenden Geschichte beruhte.
»Das hab ich mir schon gedacht«, sagte ich.
»Ach ja?«
»Ich erzähl’s Ihnen nachher.«
»Eins zu null für dich«, sagte sie belustigt. »Sonst noch was?«
»Wie heißt Mr Witek mit Vornamen?«
»Mal überlegen … David.«
Volltreffer. »Und Sie wissen nicht zufällig, ob er noch Geschwister hatte?«
»Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen. Ich weiß nur, dass es keine Angehörigen mehr gibt.«
»Nochmal danke.«
»Gern geschehen. Bis nachher dann.«
»Und?«, fragte Sarah, als ich zurückkam.
»Alles klar.« Ich setzte mich wieder an den Computer und gab Marta Witek in verschiedene Datenbanken ein. In meinen Träumen (oder Zeitreisen oder telepathischen Kontakten – was auch immer) schien Marta älter als der kleine David zu sein. Und hatte Davids Vater nicht beiden Kindern verboten, sich in der Nähe der Fabrik herumzutreiben? Vielleicht hatte ich ja Glück.
Fehlanzeige.
Aber mein Ehrgeiz war geweckt. Ich zog Handschuhe an, suchte den Mikrofilm für das entsprechende Jahr heraus und legte ihn ein. Dann rauschte ich im Schnelldurchlauf durch die Zeitungsausgaben und hielt nur ab und zu an, um festzustellen, in welchem Monat ich gelandet war. Im Oktober verlangsamte ich mein Tempo. Da fiel mir erst auf, dass die Lokalzeitung von Winter damals nur wöchentlich erschienen war, und zwar immer mittwochs. Es gab keine Ausgabe vom 20. Oktober, an dem die Leiche von Walter Brotz gefunden worden war. Das Milwaukee-Journal waram Dienstag nach der Tat erschienen, demnach musste ich in der Lokalzeitung von Winter vom 24. Oktober nachschauen.
Der Artikel stand auf der Titelseite. Die reißerische Schlagzeile lautete:
ARBEITER BRUTAL ERSTOCHEN –
FABRIKANT SCHWER VERLETZT –
TÄTER SEIT VIER TAGEN SPURLOS VERSCHWUNDEN
»Ich hab’s!« Sarah kam zu mir und las über meine Schulter mit.
Der grausame Mord an Walter Brotz, 45, hinterlässt die
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