Der Zeichner der Finsternis
dass sie allein sind. Miss Catherine hat Hüften wie reife Pfirsiche und rosige Wangen. Wenn Papa sie bittet, dass sie die Arme anders hinlegen und sich nach rechts drehen soll, lacht sie bloß und zieht eine Flunsch. Dann muss Papa zum Sofa gehen und ihre Arme anders hinlegen.
Nicht, Papa!, schreie ich stumm, als er ärgerlich den Pinsel hinwirft. Miss Catherine spielt, dass sie eine Königin ist, aber Papa begreift es nicht – oder will er es nicht begreifen? Legt er es drauf an, dass er zu ihr hingehen muss? Wieder schreie ich stumm: Nicht, Papa, nein, geh nicht hin!
Miss Catherines Morgenmantel klafft auf, und sie nimmt Papas Hand. »Ich weiß, was du willst«, sagt sie, und jetzt bin ich ganz sicher, dass es für die beiden ein Spiel ist. Papa legt die Hand auf Miss Catherines Brust. Sie zieht ihn zu sich herunter, er fällt auf sie drauf, sie greift in sein Haar. Dann ist sie nackt und schiebt die Hände unter sein Hemd. Dann stöhnen beide.
Ich kriege gar nicht mit, dass ich schreie – diesmal richtig laut –, erst als sich die beiden umdrehen und mich anstarren. Papas Haare sind ganz zerwühlt, seine Hose ist runtergerutscht, er macht ein bestürztes Gesicht. Miss Catherine kreischt und hält die Hände vor die Brüste.
Nein! Nein, Papa, nicht! Ich laufe aus dem Zimmer und stoße die Flügeltür auf, dass es PENG! macht. Der Butler hat auf seinem Stuhl gedöst und springt erschrocken auf, aber ich renne schon durch den langen Flur zur Haustür.
»David!« Das ist Papa. Er rennt hinter mir her, aber ich laufe einfach weiter. In die grelle Sonne hinaus, vorbei an den Wölfen, die am Haus arbeiten, überall herumschleichen und mir mit ihren gelben Blicken folgen. Ich laufe und laufe … nur weg von allem! Papas Rufe werden leiser und verstummen schließlich ganz. Ich höre nur noch mein eigenes Schluchzen und die Möwen, die am blauen Himmel über dem See kreisen und schreien. Und dann schreien und rufen die Männer und die Pferde wiehern.
Dann ist da auf einmal Blut. Auf Papas Händen und überall. Die Pferde wiehern. Miss Catherine und Marta und der Wolf … nein, Papa, nicht, Hilfe, ich hab Angst, hört auf, ich hab solche Angst, Hilfe Hilfe Hilfe
XIX
Natürlich war ich drei Sekunden, bevor der Wecker klingelte, hellwach. Mein Kopf war noch voller wirrer Bilder und Stimmen, und ich wusste, dass ich woanders gewesen war – in der Vergangenheit, bei dem Jungen. Ich selbst war der Junge gewesen – aber es war alles ziemlich durcheinander. Ich griff mir Schreibblock und Stift vom Nachttisch (Sarah hatte mir erzählt, dass sie für Psychologie immer ihre Träume aufschreiben musste) – und fiel vor Schreck fast aus dem Bett, als ich sah, was schon auf das oberste Blatt gekritzelt war.
Zwei Worte:
HILF MIR
+ + +
Ich warf das Blatt nicht in den Papierkorb.
Das war vielleicht dumm.
Hinterher ist man immer schlauer.
+ + +
Den zweiten Schreck bekam ich, als ich meine Wand betrachtete. Vielleicht hätte mich das Raunen in meinen Kopf – es war nämlich zurückgekehrt – vorwarnen sollen.
Die Tür war wieder da.
Mir brach der kalte Schweiß aus.
Auch jetzt hatte sie keine Klinke. Die Tür war an der gleichen Stelle wie beim ersten Mal, bloß hatte ich diesmal nicht meine eigenen, sondern Mordechai Witeks Pinsel benutzt, denn die Pinseltasche war aufgerollt und ein langstieliger Pinsel roch nach frischem Terpentin (offenbar wusch ich sogar noch schlafend meine Pinsel aus – Wahnsinn).
Das, was sich im Schlaf in meinem Kopf abspielte, hatte mir die Hand geführt. Wer oder was auch immer sich auf der anderen Seite herumtrieb, lauerte hinter der Tür. (Anscheinend hatte sogar mein Unterbewusstsein gewisse Grenzen. Irgendwie bescheuert eigentlich. Da radelte ich schlafend durch die Nacht, ließ mich an einem Seil an einer Scheunenwand herunter und sprühte Hakenkreuze – aber eine Türklinke brachte ich nicht zustande!)
Oder konnte es sein, dass der letzte Schritt, die Klinke zu malen und herunterzudrücken, bewusst getan werden musste? Diese Vorstellung fand sogar ich ziemlich verrückt.
Eine Bibelzitat ging mir durch den Kopf: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.
Ich heiße zwar Christian, aber ich hab’s eigentlich nicht so mit der Bibel und überhaupt mit Religion. Aber dieses Zitat kennt jeder. Sarahs Vater hat im Konfirmandenunterricht
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