Der Zeichner der Finsternis

Krampfanfällen oder speziellen Epilepsien haben eindrucksvolle Déjà-vu-Erlebnisse. Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung weisen während eines Flashbacks oft eine gesteigerte Aktivität in der rechten Hirnhälfte auf, verglichen mit jemandem, der sich einfach an ein Ereignis erinnert und davon erzählt.«
    Ich konnte nicht mehr ganz folgen. »Und was hat das alles mit mir zu tun?«
    »Als du im Schlaf die Stadtansicht gezeichnet hast … In derselben Nacht zeigte Mr Witeks EEG-Kurve Auffälligkeiten.«
    »War das eine Folge seines Schlaganfalls?«
    »Möglich. Vielleicht ist so etwas aber auch schon vorher aufgetreten. Der Schlaganfall hat Mr Witeks Demenz verschlimmert. Viele Demenzpatienten leben in der Vergangenheit. Mr Witeks linke Hirnhälfte ist geschädigt, und jetzt kommt womöglich die rechte verstärkt zum Zuge. Sag mal – leidest du gelegentlich an Kopfschmerzen?«
    »In letzter Zeit ziemlich oft. Hier zum Beispiel.« Ich fasste mir erst an die linke Schläfe und dann oben auf den Kopf. »Und hier. Da fühlt es sich manchmal an, als ob mir jemand einen Stein über den Schädel haut.«
    »Und früher hattest du das nicht?«
    »Nein.«
    »Das Porträt mit dem Sonnenschirm, das du von Lucy gemalt hast, und die … Vision, die du hattest, bevor du in den Gemeinschaftsraum gerannt bist – da hattest du doch das Gefühl, dass du Gedanken lesen kannst, so habe ich dich jedenfalls verstanden. Ist dir das schon mal mit jemandem passiert, außer mit Miss Stefancyzk?«
    Ich konnte mich nicht überwinden, ihr von Tante Jean zu erzählen, und schüttelte den Kopf.
    Ob sie mir glaubte, weiß ich nicht, jedenfalls sagte sie: »Erinnerst du dich an das, was ich über Einfühlungsvermögen gesagt habe? Ich habe ein paar hochbegabte Therapeuten gekannt, die sich außergewöhnlich gut in ihre Patienten hineinversetzen konnten, weil ihre eigenen Grenzen sehr durchlässig waren. Seither interessiere ich mich für Themen wie Intuition, Telepathie und dergleichen.«
    »Wie jetzt, Sie glauben doch an Telepathie?«
    »Ich schließe jedenfalls nicht aus, dass es solche Phänomene gibt. Man liest oft Berichte über Menschen, die nach einer Kopfverletzung erstaunliche Begabungen an den Tag legen. Künstler und Schriftsteller zum Beispiel.«
    Darüber hatte ich mich mit Sarah unterhalten. »Aber viele von denen waren auch verrückt«, wandte ich ein. »Halten Sie mich für geisteskrank?«
    »Nein, überhaupt nicht. Ich wollte damit nur sagen, dassdu wahrscheinlich nicht der Einzige bist, dem so etwas passiert.«
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    Sie reichte mir einen aufgeschlagenen Hefter. »Hier sind die Ergebnisse meiner eigenen Internetrecherche.«
     
    Internationale Zeitschrift für angewandte
    Parapsychologie und Neurologie
    Neueste Forschungen zur Parapsychologie
    Phänomenologische Untersuchungen
    Interkulturelle Strömungen in der
    Parapsychologie
    »Voodoo«, hätte Onkel Hank gespottet.
    »Pass auf, Christian – ich glaube, du besitzt diese besondere Fähigkeit schon lange. Du hattest sie nur unterdrückt, und jetzt ist sie zutage getreten. Ein Auslöser dafür könnten starke Gefühle sein, so wie zum Beispiel starke Reize einen Krampfanfall hervorrufen können. Viel erstaunlicher ist der Zusammenhang mit Mr Witek. Dass du eine Zeichnung von dem Gemälde in seinem Zimmer angefertigt hast, deutet darauf hin, dass du mit deiner übersteigerten Empfänglichkeit irgendwelche Signale seinerseits aufgegriffen hast. Das Ganze hat zudem in zeitlicher Nähe zu seinem Schlaganfall angefangen.«
    »Glauben Sie, sein Schlaganfall hat meine Kopfschmerzen ausgelöst?«
    »Da könnte durchaus ein Zusammenhang bestehen. Ich könnte mir übrigens denken, dass du noch mehr Erlebnissein der Richtung hattest … aber du brauchst mir natürlich nicht alles zu erzählen.« Sie hob die Hand wie eine Verkehrspolizistin. »Psychotherapeuten sind schließlich keine Gedankenpolizei. Es ist dein gutes Recht, gewisse Dinge für dich zu behalten – solange es unwichtige Dinge sind.« Nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: »Das sollte ein Witz sein.«
    »Äh, mein Leben war in letzter Zeit nicht besonders witzig.«
    »Verstehe.«
    »Wirklich?« Mir wurde ganz zittrig, als müsste ich gleich losheulen oder rumbrüllen. »Verstehen Sie mich wirklich?«
    »Ja.« Sie fasste sanft nach meinem Handgelenk. »Ich glaube, dass du und Mr Witek gewissermaßen zusammenarbeiten, beziehungsweise dass Mr Witek dich als eine Art Sprachrohr benutzt. Du bist etwas