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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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einem religiösen Text handelte. »Da fragt man sich doch, ob überhaupt jemand weiß, dass er Jude ist.«
    »Und wieso er nach Winter zurückgekommen ist. Vielleicht war er ja auch nie weg.«
    »Das kann ich mir nicht vorstellen. Dann hätte sich bestimmt schon herumgesprochen, dass er Jude ist. Ich habe nicht seine ganze Akte im Kopf, aber er ist schon mindestens zehn Jahre im Altenheim und seit ungefähr vier Jahren verwirrt.«
    »Wenn er stirbt, ist es, als hätte es hier in Winter nie irgendwelche Juden gegeben«, sagte ich nachdenklich.
    »Kennst du die Redensart: ›Geschichte wird von den Siegern geschrieben‹?« Dr. Rainier tippte auf den ausgedruckten Artikel über den Mordfall. »Zwischen der örtlichen Gewerkschaft und Mr Eisenmann braute sich etwas zusammen. Die nichtjüdischen Bürger haben die jüdische Gemeinde offenbar mit den Gewerkschaftern in einen Topf geworfen. Verständlich, wenn man bedenkt, dass die Gewerkschaft ihre Treffen in der Synagoge abgehalten hat. Aber was mich am meisten beunruhigt, ist der kurze Absatz über die Kirchengemeinden, die gegen die sonntägliche Versammlung protestieren wollten. Vielleicht …«
    »Ja?«
    »Vielleicht ist der Konflikt … ausgeufert.«
    Mich überlief es kalt. »Sie meinen, es kam vielleicht zu Auseinandersetzungen, und die Juden waren die Unterlegenen?«
    »Könnte doch sein.«

XXI
    Unsere Stunde war fast um, als Dr. Rainier sagte: »Da fällt mir wieder ein – ich habe ja auch selbst ein bisschen nachgeforscht.«
    Ich war in Gedanken immer noch bei den deutschen Kriegsgefangenen,
    die Gefangenen starren uns aus den offenen Güterwagen an
    die durch Winter marschierten, deswegen reagierte ich nicht gleich.
    »Äh … zu welchem Thema?«
    Dr. Rainier beugte sich vor. »Du hast mich gefragt, ob ich an Gedankenübertragung glaube. Das habe ich verneint. Aber dann habe ich über deine Zeichnung nachgedacht, die wie das Gemälde in Mr Witeks Zimmer aussieht, und ich habe recherchiert.«
    »Zu Gedankenübertragung?«
    »Sozusagen. Über Hirnverletzungen und die Folgen. Mr Witeks Schlaganfall ist ungefähr einen Monat her. Eine Woche, bevor du ins Altenheim gekommen bist, hatte er einen ungewöhnlichen Befund. Die Hirnstrommessung verzeichnete auf einmal eine länger anhaltende gesteigerte Aktivität, und zwar gegen Mitternacht. Ich habe die Aufzeichnung am nächsten Tag mit dem Neurologen in der Klinik besprochen,und wir waren uns einig. Offenbar hat so etwas wie eine intensive REM-Aktivität stattgefunden, und zwar überwiegend auf der rechten Seite.«
    »Von der REM-Phase hab ich schon mal gehört. Das ist, wenn man träumt, oder?«
    »Richtig. Patienten mit schwerem Alzheimer weisen ausgeprägte Fehlfunktionen des Gehirns auf, bis hin zur Enthemmung.«
    »Enthemmung?«
    »Ich erklär’s dir. Neugeborene haben eine ganze Reihe von Reflexen, die uns Erwachsenen fehlen. Das liegt daran, dass ihr Gehirn noch nicht ausgereift ist. Der heranwachsende Mensch entwickelt Mechanismen, die solche primitiven Reflexe hemmen und überdecken.«
    »Und bei Alzheimer entwickelt sich das Gehirn wieder zurück?«
    »Gewissermaßen. Es könnte sein – an diesen Fragen wird noch geforscht –, dass bei Alzheimerkranken unterdrückte Gehirnfunktionen wieder zum Vorschein kommen. Aber nicht nur irgendwelche primitiven Reflexe, sondern womöglich noch ganz andere Funktionen und Fähigkeiten – Fähigkeiten, die der Betreffende sonst niemals ausgelebt hätte.«
    Ich ahnte, worauf sie hinauswollte. Telepathische Fähigkeiten zum Beispiel?
    »Es ist bekannt«, fuhr sie fort, »dass das Schlafverhalten nach einem Schlaganfall gravierend beeinträchtigt ist. Manche Schlaganfallpatienten können kaum noch schlafen, was zu Verwirrtheit führen kann. Auch die Ausprägung der REM-Phasen ändert sich. Je nachdem, in welcher Hirnhälfte der Schlaganfall auftritt, träumt man entweder öfter oderseltener. Mr Witek hat einen linksseitigen Schlaganfall erlitten. Solche Patienten träumen häufiger und länger. Wenn sie eingeschlafen sind, setzt die REM-Phase schneller ein als bei gesunden Menschen.«
    »Dann träumt Mr Witek also viel?«
    »Ja. Aber das ist noch nicht alles. Weißt du, was ein Flashback ist?«
    »Das Wort hab ich schon mal gehört, aber …«
    »Vereinfacht gesagt: Wer ein traumatisches Erlebnis hatte, leidet oftmals an Flashbacks. Er durchlebt das belastende Ereignis in seiner Vorstellung noch einmal, in Bildern, Geräuschen, Gerüchen und so weiter. Auch Patienten mit

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