Der Zeichner der Finsternis
sonnenbeschienenen Hausseite ein Plastikband. »Welche Fläche wollt ihr denn untersuchen?«
Mosby kratzte sich das Kinn. »Schade, dass ihr die Leiche nicht im Boden entdeckt habt, dann hätte man die Grube als Ausgangspunkt nehmen können. Weil ihr hier draußen gar nichts gefunden habt, lasse ich ein Quadrat mit hundert Metern Seitenlänge abstecken. Das heißt«, er seufzte schwer, »dass wir für diese Seite zwei Tage brauchen. Die Rückseite und der Garten dauern länger. Wir haben noch Glück, dass keine Bäume dicht am Haus stehen.«
»Wieso Glück?«, fragte Sarah.
»Weil es oft Hohlräume zwischen den Wurzeln gibt. Manchmal hat auch jemand versucht, eine Quelle auszuheben, oder jemand hat Steine ausgegraben und die Löcher hinterher wieder zugeschüttet. Der Garten hinterm Haus wird bestimmt ein Alptraum. Bäume sind immer am schlimmsten.« Er blinzelte in die Morgensonne. »Aber egal. Wenn hier irgendwer verbuddelt ist – wir finden ihn!«
+ + +
Der Eingangsbereich hatte eine hohe Decke, eine Wandverkleidung aus dunklem Holz und Parkettboden. Links führte eine breite, geschwungene Treppe nach oben – eine richtige Showtreppe. Sarah kriegte sich vor Staunen gar nicht wieder ein. Ich fand das Haus auch ziemlich cool, vor allem das Esszimmer mit der dunklen Holzdecke, die mit geschnitzten Trauben, Äpfeln und Ähren verziert war. Im ganzen Haus roch es nach Kaffee und Möbelpolitur mit Zitronenduft.
Dr. Rainier empfing uns an der Tür. Sie trug einenpfauenblauen Pullover, der ihr dunkles Haar und ihre Augen betonte, dazu eine schwarze Jeans. Sie war wirklich eine sehr attraktive Frau. Sie blickte lächelnd in die Runde, wobei es mir vorkam, als ob sie Onkel Hank eine Idee länger anlächelte als uns andere. »Kommt rauf. Dr. Nichols hat gerade angefangen.«
Die hintere Treppe war schmal und schmucklos. Hier waren die Wände schmuddelig. »Es dauert mindestens noch ein Jahr, bis das ganze Haus wieder einigermaßen ansehnlich ist«, erklärte Dr. Rainier. »Ich gehe Raum für Raum vor. Das dauert zwar länger, aber auf die Art kann ich mich jederzeit noch mal umentscheiden.«
»Typisch Frau«, kommentierte Onkel Hank, und Dr. Rainier lachte. Sarah und ich wechselten einen genervten Blick.
Die Treppe mündete im zweiten Stock in einen langen Flur. Hier waren die Dienstboten untergebracht gewesen. Es war kälter als im übrigen Haus. Die verblasste Tapete im Flur hatte sich stellenweise abgelöst. Die Zimmertüren waren schlicht und ohne Zierleisten, die Lichtschalter hatten altmodische Knöpfe zum Draufdrücken und die Dielen waren abgetreten und zerschrammt.
»In welchem Zimmer ist die Leiche?«, fragte Sarah.
»In der Mädchenkammer. Da lang.«
Das Zimmer lag an der westlichen Ecke der Villa. Die Läden vor den beiden Fenstern waren geschlossen. Die verblichene, blassgrüne Tapete war mit Röschen bedruckt. Um den Kamin herum war die Wand schwarz verrußt, und die Ziegeleinfassung war so schief, als hätte das ganze Haus Schlagseite. Der Boden vor dem Kamin war mit Schieferplatten gepflastert und mit Putzbrocken und zerbrochenen Ziegelnübersät. Überall sonst lag abgewetzter Teppichboden. Es roch muffig.
Als wir hereinkamen, wandte eine stämmige Frau mit weißem Schutzanzug und kurzem braunem Haar den Kopf. »Morgen!« Sie machte sich gerade Notizen auf einem Tablet-PC, aber jetzt erhob sie sich schwerfällig aus der Hocke. »Kalt ist es hier drin.« Sie ging mit ausgestreckter Hand auf Onkel Hank zu. »Dr. Denise Nichols. Wir haben telefoniert.«
Onkel Hank stellte Sarah und mich vor, dann fragte er: »Und, wie läuft’s?«
»Schauen Sie sich’s ruhig an.«
Wir versammelten uns vor dem verwüsteten Kamin. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte – jedenfalls sah das, was ich nun erblickte, ganz und gar nicht aus wie in einem Indiana-Jones-Film.
Es erinnerte eher an die Nachbildungen steinzeitlicher Gräber im Museum für Vor- und Frühgeschichte, bloß nicht halb so spannend. Man sah nur den Kopf und den halben Oberkörper, alles andere steckte noch in der Kaminnische. Das tote Baby sah aus wie ein uralter Greis. Die ledrige Haut spannte sich über dem Schädel. Das Kind hatte im Tod die Lippen hochgezogen, sodass der zahnlose Gaumen entblößt war. Oben auf dem Kopf klebte bräunlicher Haarflaum. Die Augen waren geschlossen, mit tief eingesunkenen Lidern, weil die Augäpfel vertrocknet waren. Überhaupt stimmte etwas nicht mit dem Kopf. Doch ich kam nicht gleich drauf.
Sarah brach
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