Der Zeichner der Finsternis
damit gerechnet , dass der Anblick des toten Kindes etwas bei mir auslösen würde. Jetzt war ich zugleich enttäuscht und immer noch angespannt.
»Wir können im Wintergarten essen«, meinte Dr. Rainier. »Dort hat man eine schöne Aussicht.« Wir gingen durch einen kurzen Flur auf die Rückseite des Hauses. »Das mit dem Bach ist ein bisschen seltsam, aber wahrscheinlich wollte man den Garten nach drinnen holen oder so ähnlich. Wenn es draußen kalt wird, muss man den Brunnen natürlich abstellen. Aber selbst wenn der Garten kahl ist, hat man noch die Blumen auf dem Bleiglas …« Ihr Blick fiel auf mein Gesicht. Sie unterbrach sich und fragte: »Was hast du, Christian?«
Ich bekam kein Wort heraus. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Onkel Hank stand sofort neben mir und hielt mich am Arm fest. »Was ist los mit dir, Christian?«
Da war das leere, mit Kieseln bedeckte Bachbett. Da war auch das bunte Glasfenster. Draußen leerte die anmutige Frauenstatue ihre Amphore in den abgestellten Brunnen. Der Wind fuhr durch die Zweige der mächtigen Weide.
Es war der Wintergarten aus meiner Vision. Der gleiche Raum wie auf dem Gemälde.
In diesem Haus hatte Catherine Bleverton gewohnt.
XXV
»Ausgeschlossen.« Sarah schüttelte energisch den Kopf. Wir alle, auch Dr. Nichols, saßen um den Küchentisch. Zwischen uns stand ein fast leerer großer Teller mit Broten. »Es gibt keine Übertragungsurkunde und keinen Kaufvertrag, das habe ich alles schon recherchiert. Dieses Haus hat immer der Familie Ziegler gehört. Sie haben es zwar vermietet, aber nie verkauft.«
»Dann hat Catherine Bleverton die Villa vielleicht auch gemietet.« Ich hatte nur ein-, zweimal von meinem Brot abgebissen; jetzt schob ich den Teller weg. Ich konnte den anderen ja nicht richtig erklären, weshalb ich so heftig reagiert hatte. Nicht einmal Dr. Rainier wusste von meiner Zeitreise in den Wintergarten. Zum Glück gab es das Gemälde in Mr Witeks Zimmer. Das plus die Sache mit Katarina bei Sonnenuntergang (darüber wusste immerhin Sarah Bescheid, sodass ich wohl doch nicht total schizo war) genügte halbwegs als Erklärung.
Ich sagte: »Catherine Bleverton hat vorher in Milwaukee gelebt. Eisenmann wollte aber nicht zu ihr ziehen, weil seine Fabrik in Winter war. Wahrscheinlich hätten die beiden sich hier gern ein eigenes Haus gebaut. Doch als seine Verlobte konnte sie noch nicht bei ihm wohnen, das war ja früherso.« Ich hatte zwar keine Ahnung von den Anstandsregeln um 1945, aber die anderen schienen sich auch nicht besser auszukennen, denn sie nickten zustimmend.
Dr. Rainier sprach aus, was wir alle dachten: »Ob sie wohl auch hier gewohnt hat, als das Baby eingemauert wurde?«
»Vielleicht war sie ja sogar die Mutter!«, mutmaßte Sarah. »Und der Vater … Ob das Kind von Mr Eisenmann war?«
Onkel Hank machte ein skeptisches Gesicht. »Aber die beiden wollten doch sowieso heiraten. Sie hätten einfach etwas früher heiraten, verreisen und nach der Geburt des Kindes zurückkommen können. Selbst wenn es Gerede gegeben hätte – na und?«
»Vielleicht konnte Eisenmann nicht von hier weg«, warf ich ein. »Er konnte seine Firma nicht sich selbst überlassen. Der Krieg war gerade aus, und es gab viele neue Aufträge. Aus der Ferne konnte er sein Unternehmen nicht leiten – es gab ja noch keine Computer.«
Dr. Rainier sagte belustigt: »Wir sprechen doch nicht vom Mittelalter. Es gab immerhin Telefon und Telegramme, und viele Kaufleute führten ihre Geschäfte von Übersee aus. Mich beschäftigt etwas anderes. Catherine Bleverton ist 1946 gestorben und war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet, so viel wissen wir. Und auch, dass Mr Eisenmann bei ihrem tödlichen Bootsunfall dabei war. Catherines Schwangerschaft zu verheimlichen, wäre schwierig gewesen. Dass eine Tochter aus gutem Hause ein uneheliches Kind erwartete, hätte in den Zeitungen von damals bestimmt Schlagzeilen gemacht.«
Dr. Nichols mischte sich ein. »Christian hat doch recherchiert,dass die Verlobung im Frühjahr 1945 bekannt gegeben wurde. Nehmen wir mal an, das Kind wurde tatsächlich nur einen Monat alt. Dann wäre diese Miss Bleverton die zweite Hälfte des Jahres 1945 und die ersten Monate des Jahres 1946 schwanger gewesen. Du kannst ja noch mal in den Klatschspalten recherchieren, ob sie plötzlich die Stadt verlassen hat, Christian, aber ich gehe eigentlich nicht davon aus.« Sie nahm sich noch ein Brot und fuhr fort: »Ich glaube, das Baby hat eine andere
Weitere Kostenlose Bücher