Der Zeichner der Finsternis
als Erste das Schweigen. »Wo sind denn die Ohren?« Ach so!
»Das habe ich mich auch schon gefragt, als ich das erste Mal hier war«, sagte Onkel Hank.
»Gut beobachtet, Sarah«, lobte Dr. Rainier Sarah zu ihrer Freude.
Auch Dr. Nichols nickte anerkennend. »Sogar manchen Examensstudenten fällt so etwas nicht auf Anhieb auf. Man könnte denken, dass jemand die Ohren abgeschnitten hat, aber tatsächlich hat das Kind verkümmerte Ohrmuscheln.« Sie zeigte uns die beiden rosinengroßen Knubbel. »Wenn so etwas beidseitig auftritt, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ein Krankheitsbild handelt, zum Beispiel um das Goldenhar-Syndrom oder um Treacher-Collins. Ich tippe auf Letzteres. Der Unterkiefer ist sehr schwach entwickelt, auch die Augen stehen ein bisschen schräg. Falls es sich tatsächlich um Treacher-Collins handelt, könnte uns das weiterhelfen.«
»Wie denn?«, fragte ich.
»Bei Treacher-Collins beträgt das Risiko fünfzig Prozent, dass das defekte Gen weitervererbt wird. Es ist also wahrscheinlich, dass ein Elternteil das gleiche Problem hatte oder zumindest Genträger war. Menschen mit dieser Krankheit besitzen eine normale Intelligenz. Wenn sie nur leicht betroffen sind und einfach nur sehr kleine oder auch gar keine Ohrmuscheln haben, sind sie zwar oft taub, aber das lässt sich mit speziellen Hörgeräten ausgleichen.«
Sarah hatte schon weiter gedacht als ich. »Das heißt, wer das Baby eingemauert hat, wollte nicht, dass jemand eins und eins zusammenzählt und drauf kommt, wer der Vater oder die Mutter ist.«
»Oder aber die Eltern, beziehungsweise die Hebamme,haben die Missbildung als eine Art Fluch aufgefasst und das Kind deswegen getötet. So etwas kam früher durchaus vor. Vielleicht hat die Fehlbildung aber auch gar nichts damit zu tun, dass jemand das Kind loswerden wollte. Wenn wir das Mauerstück in unser Labor gebracht und gründlich untersucht haben, wissen wir hoffentlich mehr.«
»Ja, holen Sie die Leiche denn nicht jetzt aus der Wand?« Sarah klang enttäuscht.
»Einen Leichnam aus Beton oder Putz herauszulösen, ist eine mühsame und langwierige Angelegenheit, die sich besser und schneller unter Laborbedingungen durchführen lässt. Außerdem haben die Röntgenaufnahmen ergeben, dass der Leichnam nicht durchgängig mumifiziert ist. Es fehlen mehrere Zehen und ein Fuß ist zerfallen. Das Skelett eines Kindes besitzt mehr Knochen als das eines Erwachsenen, und wir müssen uns mit Zahnarztinstrumenten vortasten.«
»Wissen Sie denn wenigstens, wie alt das Baby war?«
»Nach dem Kopfumfang zu schließen etwa einen Monat. Ich kann euch aber noch etwas anderes zeigen, das ganz spannend ist.« Dr. Nichols tippte kurz auf ihrem PC herum und öffnete ein Foto – eine Röntgenaufnahme. Das Baby hatte Arme und Beine angezogen und sein Brustkorb sah wie ein kleiner Vogelkäfig aus. Helle runde Flecken waren über den Oberkörper verteilt. In einer Kniebeuge war etwas Längliches zu erkennen.
Dr. Nichols deutete auf die runden Flecken. »Was das Längliche da unten ist, weiß ich noch nicht, vielleicht ein Amulett. Aber das hier sind höchstwahrscheinlich Druckknöpfe. Das grenzt die Datierung ein. Wir gehen vor wie Archäologen auf einer Ausgrabungsstätte und datieren alsErstes die gefundenen Gegenstände. Druckknöpfe kamen um 1910 in Gebrauch. Die Kinderleiche kann also höchstens hundert Jahre alt sein, wahrscheinlich eher siebzig.«
»Wieso?«, fragte ich.
Dr. Nichols drehte wortlos einen herausgebrochenen Ziegel um. In die Unterseite waren die Worte GOLD & BRICK geprägt sowie die Jahreszahl 1941.
»Gold & Brick ist eine sehr bekannte Ziegelei, die schon seit 1880 besteht. Alle Steine werden dort mit einer Jahreszahl versehen. Genauso gut hätten wir aber auch das Material der Ziegel oder die Zusammensetzung des Putzes analysieren können.«
»Damit hätten wir das Wann «, stellte ich fest, »aber noch nicht das Warum und das Wie .«
»Und vor allem nicht das Wer. «
+ + +
Anschließend bereitete Dr. Nichols das Heraussägen des Mauerstücks vor, und wir gingen wieder nach unten. Auf der Treppe meinte Dr. Rainier: »Es ist gleich Mittag. Ich habe Brote geschmiert, falls jemand Hunger hat.«
»Ich bin am Verhungern!«, erwiderte Sarah und fuhr begeistert fort: »Ich glaub, mein Referat wird total toll! Kann ich noch hierbleiben und zuschauen, wie das Baby aus der Wand gesägt wird?«
Ich hatte eigentlich keine Lust, länger zu bleiben. Ich hatte gehofft, nein, fest
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