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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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einiges über die Ereignisse damals weiß. Nach dem Brand der Synagoge hat sich die jüdische Gemeinde in Winter aufgelöst. Der Synagogenvorstand hatte sich für einen Umzug ausgesprochen. Außerdem sind im Lauf der Jahre viele junge Leute aus Wisconsin weggegangen und von den Älteren viele schon gestorben.«
    »Aber David lebt noch, ich meine Mr Witek.«
    »Ich war sehr überrascht, von ihm zu hören, denn die Gemeinde hat schon lange keinen Kontakt mehr mit ihm. Er leidet an Alzheimer? Ist er in einem Pflegeheim untergebracht?«
    Nachdem ich das bestätigt hatte, setzte ich hinzu: »Es geht ihm nicht gut.«
    Schweigen. Dann: »Was bedeutet das?«
    Ich holte tief Luft. »Dass er stirbt. Die Ärztin im Heim sagt, er hat nur noch ein paar Wochen zu leben.«
    Rabbi Saltzman schwieg wieder. Dann sagte er: »Das tut mir aufrichtig leid.« Pause. »Ich muss jetzt auflegen. Wollen wir unser Gespräch am Sonntag fortsetzen?« Wir beendeten das Telefonat.
    Onkel Hank hatte zugehört und sagte: »Das wird ja immerspannender. Ich habe übrigens die alte Akte über den Mordfall rausgesucht, aber es steht so gut wie nichts drin. Natürlich wurden Witeks Frau und Kinder damals befragt …«
    Ich war ganz Ohr. »Was hat denn der Sohn ausgesagt?«
    »Nichts.«
    »Du meinst, er hat gesagt, dass er nichts gesehen hat?« Dann hätte David gelogen, nur dass ich das noch niemandem erklären konnte.
    »Nein«, antwortete Onkel Hank. »Der Junge hat buchstäblich nichts gesagt. Er hat gar nicht mehr gesprochen. Mein Großvater – dein Urgroßvater Jasper – hat ihn damals einbestellt. Der Kleine wurde schließlich nach Madison geschickt. Dort gab es einen Psychiater, der in Großbritannien Kriegswaisen behandelt hatte. Sein Bericht liegt auch in der Akte. Er hat bei dem Jungen ein Trauma festgestellt, ähnlich wie bei vielen Kindern, die die Bombenangriffe auf England erlebt hatten.«
    »Eine posttraumatische Belastungsstörung?«
    »So nennt man das heute. In dem alten Bericht heißt es ›verstört‹ . Allerdings fand man nicht heraus, worin das Trauma bestand. Der Junge blieb monatelang im Krankenhaus, und als er irgendwann wieder sprach, konnte er sich nach Auskunft der Ärzte nicht mehr an den Abend des Mordes erinnern. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, wie er zwei Tage vorher zur Schule gegangen war. ›Traumatischer Gedächtnisverlust‹ nennt man das. Worauf dein Urgroßvater natürlich umso lieber gewusst hätte, was das Trauma bei dem Jungen ausgelöst hatte.«Ich hätte es ihm sagen können.
    Aber ich konnte Davids traumatisches Erlebnis immer noch nicht richtig deuten.

XXVI
    In dieser Nacht träumte ich überhaupt nichts. Am Samstagmorgen wachte ich früh auf: keine Kopfschmerzen, kein nervtötendes Raunen, keine übersinnlichen Botschaften. Die gemalte Tür an meiner Zimmerwand war noch da (ohne Klinke), aber diesmal hatte ich nicht den Eindruck, dass dahinter etwas Unheimliches lauerte.
    Warum nicht? Gute Frage. Weil ich die Suche nach meiner Mutter aufgegeben hatte? Nein, das stimmte so nicht. Ich liebte meine Mutter wie eh und je … Obwohl … konnte man das so sagen? Schließlich besaß ich nur noch die Erinnerungen eines Dreijährigen an sie.
    Was hätte Dr. Rainier wohl dazu gesagt? Plötzlich fiel mir auf, dass ich mich doch tatsächlich für meine Umwelt interessierte, für das Hier und Jetzt . Um mich herum passierte so viel Spannendes und Neues.
    Zum Beispiel hatte ich – gewissermaßen – eine Freundin. Eigentlich hatte Sarah schon immer zu meinem Leben gehört. Doch entweder hatte ich mir nie erlaubt, auf diese Art an sie zu denken, oder ich war so mit meiner Mutter beschäftigt gewesen, dass ich blind für alles andere war.
    Meine Recherche über die Ereignisse in Winter hatte mich richtig gepackt. Dass es in unserer Stadt ein Lager fürdeutsche Kriegsgefangene, vielleicht Nazis, gegeben hatte, die womöglich noch in einen Mord verwickelt waren, und dass das Thema von allen totgeschwiegen wurde – das war schon ein dolles Ding, fand ich.
    Mir kam es jedenfalls vor, als ob das alles kein Zufall war. Als ob eine Absicht dahintersteckte, wie die berühmte »höhere Macht«. Wir hingen alle irgendwie zusammen: Sarah, Onkel Hank, Dr. Rainier, David Witek und ich. Ich war schon immer anders gewesen und hatte mich vor meinen besonderen Fähigkeiten gefürchtet, weil ich den wenigen Leuten, denen ich wichtig war, nicht schaden wollte. Damit meine ich natürlich Onkel Hank. Aber meine Gewissensbisse

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