Der Zeichner der Finsternis
wegen Tante Jean … Hatte Onkel Hank wirklich etwas davon, wenn er wusste, was in Wahrheit geschehen war?
Vielleicht war David ein Katalysator. Vielleicht hatte mein ganzes Leben auf dieses Ziel hingeführt, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
Oder das Ganze war ein riesengroßes Hirngespinst.
Trotz aller unangenehmen Begleiterscheinungen und Ängste – ich musste herausbekommen, was sich damals in der Scheune abgespielt hatte. Auch David wollte mir das mitteilen. Oder das verwirrte Hirn des alzheimerkranken Mr Witek hatte sich irgendwie mit meinem kurzgeschlossen.
Jedenfalls würde David Witek bald sterben und sein Gehirn zerbröselte rasend schnell. Bekam ich deswegen keine Traumbotschaften mehr? War er inzwischen endgültig dement geworden und konnte mir nie mehr etwas mitteilen?
Scheiße.
+ + +
Ausnahmsweise setzte ich mich gegen Onkel Hank durch. Er wollte mich zu Dekker hinfahren oder mich von Justin bringen lassen, aber das kam nicht infrage. Das Fahrrad wollte ich auch nicht nehmen, denn Mr Dekkers Schrauberbude lag außerhalb und, ich geb’s zu, ich hatte auch keine Lust auf irgendwelche »Unfälle«.
Ich goss mir Kaffee nach. »Ich bin siebzehn. Du kannst mich nicht ewig in Watte packen. Du meinst es gut, das weiß ich, aber ich muss da allein hin. Du weißt doch, wo ich bin. Mir passiert schon nichts.«
Onkel Hanks Miene wurde finster. »In Autowerkstätten passieren dauernd Unfälle. Hebebühnen geben den Geist auf, Autos kippen um …«
»Ich bin doch gar nicht in der Werkstatt. Bestimmt soll ich das Motorrad im Freien lackieren.« Das war eine reine Vermutung, denn ich hatte noch nie im Leben ein Motorrad lackiert. »Bald kannst du sowieso nicht mehr auf mich aufpassen, wenn ich studiere … oder so. Dann muss ich auch allein klarkommen. Dein Vater hat dich bestimmt nicht überall hingefahren.«
»Das ist etwas anderes.«
»Weil dich nicht alle für gestört gehalten haben?«
Onkel Hank sah mir fest in die Augen. »Du weißt genau, was ich meine! Dreh mir gefälligst nicht das Wort im Mund rum.«
Ich ließ mich nicht beirren. »Ist ja nicht deine Schuld. Trotzdem kannst du mir nicht immer alles abnehmen. Als Tante Jean noch lebte, hast du immer gesagt, das Wichtigste ist, dass man etwas aus sich macht.« Das war jetzt gemein. Ich sah ihm an, dass ich ihn verletzt hatte, aber ich redeteweiter: »Die Sache mit Dekker ist ein Schritt in diese Richtung, und da kann ich kein Kindermädchen gebrauchen, das hinter mir herrennt und mit dem Pflaster wedelt, falls ich mal hinfalle und mir das Knie aufschlage.«
Onkel Hank mahlte mit dem Unterkiefer. Ich dachte schon, er würde jetzt endgültig Nein sagen, aber da fiel er in sich zusammen wie ein angestochener Luftballon und seufzte: »Wenn es nur das wäre!«
Er ließ mich allein zu den Dekkers fahren.
+ + +
Es war ein kalter Morgen. Auf den Stoppelfeldern lag Reif, und in den Straßensenken sammelten sich Nebelschwaden. Dekkers Vater wohnte fünfzehn Meilen westlich der Stadt in einer Straße, die noch nicht mal einen Namen hatte. Unterwegs entdeckte ich auf einem Feld einen wilden Truthahn, und ein Sperber flog von einem Verkehrsschild auf, als ich vorbeibrauste. Krähen sah ich keine.
Die Werkstatt lag am Ende einer Einkaufsstraße mit vier, fünf Geschäften, die alle leer standen. Gegenüber war eine Tankstelle, in der man auch Angelscheine und Köder kaufen konnte. Daneben gab es eine abgeranzte Kneipe, die in der Angel- und Jagdsaison gut besucht war und sich ansonsten mit den paar Anwohnern begnügen musste. Angeblich lief der Laden deswegen super, weil die Gäste dort ungestört ihre krummen Geschäfte besprechen konnten. Fünfzehn Meilen ist ganz schön ab vom Schuss.
Vor der Werkstatt war ein rostiger Pick-up aufgebockt, an die zehn weitere Schrottkisten parkten im vertrocknetenUnkraut. An der Hauswand waren alte Reifen gestapelt, und es gab lauter Haufen aus den verschiedensten Schrottteilen: Rückspiegel, Radkappen, sogar Türgriffe.
Als ich den Motor abstellte, kam Dekkers Vater aus der Tür geschlurft. Er trug ein schmuddeliges Hemd und einen fleckigen, grau verwaschenen Overall, der früher blau gewesen sein mochte. Dazu hatte er ein speckiges rotes Tuch um den Hals geknotet, und als ich ausstieg, nahm er das Tuch ab und wischte sich damit das Schmieröl von den Händen.
»Nanu – heute ohne Leibwache?« Hinter dem struppigen roten Bart, der schon grau wurde, kamen braune Zähne zum Vorschein. »Hat der Sheriff seinen
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