Der Zeichner der Finsternis
Farben aus meiner Schreibtischschublade gekramt habe, Dann malte ich drauflos – nein, ich hieb mit dem Pinsel auf meine Zimmerwand ein wie mit einem Messer. Dr. Rainier stand hinter mir, aberich konnte mir ihr Gesicht auch vorstellen, ich brauchte es nicht zu sehen. Ich schloss die Augen, griff in den Abgrund und holte alles heraus, was ich zu fassen bekam. Es machte Klick, und ich löste mich von meiner Umgebung, wurde leicht wie ein mit Helium gefüllter Ballon, so wie damals bei Miss Stefancyzk und Tante Jean. Und bei Lucy, aber nicht, als ich ihr Selbstporträt als fröhliches junges Mädchen im weißen Kleid zutage gefördert hatte, sondern im Augenblick ihres Todes. Als sie die Gichtfinger um die Zeichenkohle gekrampft und beim Zusammenbrechen ihr Selbstporträt mit schwarzen Streifen überzogen hatte wie mit tränenfeuchter Wimperntusche. Ich förderte eine stinkende, widerliche Finsternis zutage, die sogar Dr. Rainier selbst niemals in ihrem Inneren vermutet hätte. Ich war leicht wie ein Ballon. Doch der Ballon wurde von einem schwarzen Trichter eingesogen, von einem Tornado, und der tosende Sturm war meine eigene unbändige Wut – auf all die Verletzungen und Verluste, die Kränkungen, das Getuschel, die missgünstigen Gedanken der Leute in Winter mit ihrer verlogenen Heimlichtuerei …
Ich arbeitete gehetzt und mit ausholenden Pinselschwüngen. Mein Verstand war ausgeschaltet. Meine Hand gehorchte einem unsichtbaren Antrieb, als würde ich von einem geisterhaften Puppenspieler geführt. Ich malte, bis mein Arm lahm wurde und meine Schulter pochte. Ich malte, bis meine Finger den Pinsel kaum noch halten konnten. Ich weiß nicht, wie lange ich malte, aber die Stunden vergingen wie im Flug, wie im Traum, bis sich der fieberhafte Antrieb allmählich verflüchtigte, so wie sich ein Gewittersturm irgendwann wieder verzieht.
Völlig erschöpft machte ich die Augen auf.
Dr. Rainier entfuhr ein heiserer Laut wie das Krächzen einer sterbenden Krähe.
Ich drehte mich nicht nach ihr um. Ich konnte den Blick nicht von dem abscheulichen Bild wenden, das ich gemalt hatte.
Von Dr. Rainiers schlimmsten Ängsten.
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Wie soll man einen Alptraum beschreiben? Jeder Alptraum ist einzigartig. Aber es gibt auch gewisse Gemeinsamkeiten. Sarah hatte mir mal vom »Kollektiven Unbewussten« erzählt, eine weitere Perle aus ihrem Psychologiekurs. Trotzdem erfordert jeder Traum jemand ganz Bestimmten, der ihn träumt. Und jede Angst erfordert einen ganz bestimmten Menschen, der genau auf diese Angst anspringt.
Stell dir einen großen, feuchtkalten Keller vor. Der Boden ist mit modrigem Schlamm bedeckt. In dem Schlamm krabbeln Würmer, dick wie dein Handgelenk, und es stinkt nach Fäulnis. Du weißt, wenn du nur einen Fuß in den Schlamm setzt, ist es aus mit dir. Dann kommen die Wesen herbei, die dort hausen. Nicht nur die gefräßigen Würmer, sondern auch halb verweste Leichen, denen die Gedärme raushängen und in deren Augenhöhlen es von Maden wimmelt, und schleimige Scheusale mit winzigen Augen und aufgerissenen Rachen. Sie packen dich am Knöchel und ziehen dich zu sich herunter. Du schreist und schlägst um dich, bis dein Mund voller Schlamm läuft und du erstickst.
Aber du bist ein Kind, du bist erst sechs, und der Strom ist ausgefallen, weil draußen ein Unwetter tobt. Das Haus steht mitten im Nirgendwo, du bist ganz allein, und das Monster ist oben, hat eine Axt und ruft nach dir. Deine Mutter hat es schon umgebracht, und jetzt will es dich auch noch umbringen. Du tastest wimmernd über die feuchte Wand nach dem Lichtschalter, findest aber keinen. Eine Taschenlampe hast du auch nicht. Aber du musst dich verstecken, weil das Monster immer näherkommt. Du hörst, wie es durchs Haus stapft, du riechst den betäubenden Gestank aus seinem Maul und weißt, auch wenn du das Monster nicht sehen kannst, dass ihm blutiges Fleisch aus dem Rachen hängt und dass das Blut auf der Axt von deiner Mutter stammt. Du darfst nicht oben bleiben, du musst dich unter die Erde verkriechen.
Du machst einen Schritt, dann noch einen, und die Dunkelheit verschluckt dich, und du bist im Keller, der keinen anderen Ausgang hat.
Hier unten ist es finster, stockfinster, zappenduster, und es stinkt – nach Staub und Schimmel und Rattenkötteln. Nicht nach fauligem Schlamm, wie du immer gedacht hast. Dafür sind überall dicke klebrige Spinnweben, die sich auf das Gesicht der kleinen Helen legen, als sie durch die Dunkelheit tappt und
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