Der Zeichner der Finsternis
reden.«
Jetzt würde sie doch bestimmt sagen »Das verstehe ich« oder »Das muss ich natürlich akzeptieren«. Sie war Therapeutin, und sollte ein Therapeut die Bedürfnisse seines Klienten nicht respektieren? Aber nein, ich hatte eine Therapeutin abgekriegt, die sich nicht an die Regeln hielt, denn die Tür ging auf und Dr. Rainier kam ins Zimmer wie eine Traumgestalt.
Ich war stinksauer. »Sind Sie taub ? Ich will mit niemandem reden! Ich will niemanden sehen! Raus! «
Sie zuckte nicht mit der Wimper. »Abgelehnt«, sagte sie ruhig und schloss die Tür hinter sich. Sie setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, schlug die Beine übereinander und legte die gefalteten Hände in den Schoß wie eine Psychotante aus einem Bilderwitz – und so, wie sie sich bis jetzt noch nie benommen hatte. »Es geht nicht, dass du dich immer verkriechst. Du musst darüber reden.«
»Muss ich gar nicht.« Ich ließ mich aufs Bett fallen und legte den Arm über die Augen. Meine Lider fühlten sich wund an, als hätte ich mit Sandpapier darauf herumgeschmirgelt. »Ich muss gar nichts mehr! Das ganze Reden hat nichts geholfen, und ich hab die Schnauze voll. Von Ihnen und von dieser Stadt und überhaupt von allem.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Feigling bist. Wenn du von allem die Schnauze voll hast, hättest du doch längst durch die Tür dort abhauen können.«
Auf einmal war ich hellwach. »Woher wissen Sie das? Ich hab keinem …«
»Ich habe meine Facharztausbildung als Psychiaterin nicht beim Kindergeburtstag gewonnen. Wenn ich eine Tür sehe, weiß ich, was los ist, und du «, sie richtete anklagend den Zeigefinger auf mich, » du bist ein Feigling. Du hast schon so viel erreicht. Du besitzt angeblich einzigartige Fähigkeiten, und jetzt hast du auf einmal Schiss, deine Gabe auch einzusetzen? Leute wie du stehen mir bis obenhin! Immer nur jammern und nörgeln …«
Wenn sie mich provozieren wollte, war es ihr gelungen. Ich setzte mich auf und ballte die Fäuste. »Feigling? Ich bin kein Feigling! Ich bin ein Mörder! Ich male den Tod herbei! Alle, die mir etwas bedeuten, müssen sterben! Kapieren Sie das endlich mal?«
»Soso«, sagte sie derart herablassend, dass ich am liebsten irgendwas durchs Zimmer geschmissen hätte. Wie hatte ich bloß so bescheuert sein können? Sie hatte sich nie für mich interessiert, sie fand mich blöd und lästig. »Ich kapiere das sehr wohl, Christian. Nämlich, dass du davon überzeugt bist. Ich nicht.«
»Ihr Pech.« Ich ließ mich wieder zurücksinken. »Dann können Sie ja jetzt endlich rausgehen.«
»Und wenn nicht? Malst du mich dann tot?«
Sie haben’s erfasst . Aber das dachte ich nur. Ich hatte auf einmal einen hohen Pfeifton im Ohr, so wie wenn man zu viel Aspirin geschluckt hat. Ich hatte aber keine Kopfschmerztabletten genommen, und das Pfeifen hörte auch gleich wieder auf. Es war nur ein Signal gewesen. Denn jetzt brach das altbekannte Raunen wieder los und die vielstimmige Meute drängte gegen die unvollendete Tür.
Dr. Rainier übertönte den Tumult. »Ich nehme dir nichtab, dass du mit deinen Bildern Leute umbringen kannst. Du bist nur ein Schwamm, meinetwegen ein Sprachrohr, aber du besitzt keine Macht über andere Menschen. Du zeichnest nicht nach deinen eigenen Vorstellungen, sondern bist darauf angewiesen, dass dir andere ihre Gefühle übermitteln, weil du nämlich viel zu viel Schiss hast, deine eigenen …«
»BLÖDE KUH!« Ich sprang vom Bett und warf dabei meinen Nachttisch um. Die Lampe knallte auf den Boden und zersprang mit einer grellen Explosion wie im Kino. Ich zog Mordechai Witeks Pinsel aus meiner Hosentasche und hielt sie ihr unter die Nase. »Sie nehmen mir das nicht ab, hä? Wie wär’s, wenn ich zur Abwechslung Sie male?!«
Sie blieb ganz gelassen und schaute mich aus dunklen Krähenaugen unverwandt an. »Nur zu. Benutz deine eigene Vorstellungskraft. Mal mich irgendwo hinein und lass es mich dann erleben. Zeig, was du kannst. Oder kannst du nur große Töne spucken?«
Am liebsten hätte ich sie geschlagen. Ich schwenkte immer noch die Faust mit der Pinseltasche vor ihrem Gesicht. Aber dann dachte ich: Bitte sehr! Es ist ja Ihr Beruf, in den schlimmen Erlebnissen anderer Leute rumzustochern. Aber Sie werden sich wundern. Ich bin Ihr wandelnder Alptraum! Sie haben es so gewollt!
An viel erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß noch, dass ich Mordechai Witeks Pinseltasche geöffnet und einen dünnen Pinsel herausgezogen habe. Dass ich
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