Der Zeichner der Finsternis
Alptraum sie umbringt. Der Alptraum, den ich wieder zum Leben erweckt habe, den sie damals irgendwie überstanden hat, den sie aber nicht noch einmal übersteht – wenn ich nicht eingreife.
Rette sie!
Ausnahmsweise zögere ich nicht. Ich trete in das Bild hinein – oder das Bild tut sich auf und umfängt mich, das kann ich nicht sagen. Jedenfalls bin ich in Dr. Rainiers Weltund stehe in der Tür zum Heizungskeller. Ich rieche den Wahnsinn ihres Vaters und das Blut ihrer Mutter. Ihr Vater ist ein muskelbepackter Riese mit Eidechsenaugen. Er geht langsam um den Heizkessel herum. Er – nein, ES , das Daddymonster – hat eine blutverschmierte Axt in der Hand und schaut auf ein verängstigtes kleines Mädchen hinunter. Dann greift das Daddymonster nach der Kleinen und …
»HALT!« Mit zwei Schritten habe ich den Keller durchquert. Helens Daddy dreht sich halb um, aber ich springe ihn mit vorgestreckten Armen an. Er verliert das Gleichgewicht, die Axt schlittert über den Boden, dann fällt er hin und ich falle auf ihn drauf. Ich habe ihn überrumpelt, das ist mein Vorteil, aber er ist älter, größer und viel stärker als ich. Mit einem Wutschrei drischt er mir die Faust auf den Kopf. Vor meinen Augen wird alles erst weiß und dann rot, dann schlägt er noch einmal zu und trifft mich in den Magen. Ich kippe rückwärts, würge, Kotze schießt mir aus dem Mund, die Luft bleibt mir weg und ich wälze mich auf dem Boden.
Steh auf! Ich ringe nach Luft, höre Helens Vater betrunken umhertorkeln. Er sucht nach der Axt, die ganz in meiner Nähe liegt, und es durchfährt mich: Steh auf, sonst bringt er dich um! Steh auf, oder du gehst in ihrem Alptraum drauf! Steh auf steh auf …
Ich komme ihm nur knapp zuvor. Ich packe die Axt an ihrem glitschigen Griff, dann kracht seine Faust zwischen meine Schulterblätter. Mein Gesicht knallt auf den Betonboden, prallt ab, und es reißt mir den Kopf in den Nacken. Aus meiner Nase sprudelt Blut. Blut läuft mir auch in die Augen, von der Platzwunde am Kopf. Aber ich lasse die Axt nicht los. Ich wälze mich auf die Seite und hole weit aus. Ichstoße einen kehligen Schrei aus wie ein Tier – und die Axt fährt in hohem Bogen …
+ + +
»Christian!«
Ich schlug schreiend um mich. Ich lag in meine Bettdecke verheddert auf dem Fußboden, in den Scherben der Nachttischlampe und neben dem umgekippten Nachttisch. Nicht nur die Glühbirne in der Lampe war zersplittert, auch der Lampenfuß war durchgebrochen. Mein Gesicht war mit Tränen und Rotz verschmiert, Spucke lief mir aus dem Mund.
»Christian?« Dr. Rainier klang ängstlich. Sie sagte noch etwas, dann wummerte Onkel Hank an die Tür und brüllte: »Christian, was ist da drinnen los? Mach auf, Christian!«
Ein Traum. Ich zitterte. Ein Alptraum, aber diesmal mein eigener . Ich hatte mich auf mein Bett geworfen, mich in den Schlaf geheult und geträumt, Dr. Rainier hätte mich so wütend gemacht, dass ich nicht mehr an mich halten konnte und …
»Komme schon!« Mein Hals war ganz trocken. Beim Sprechen fühlte es sich an, als müsste ich eine Rasierklinge schlucken. Ich hustete, wischte mir mit dem Deckenzipfel das Gesicht ab, kroch zur Tür und richtete mich mühsam auf.
Als Onkel Hank das Zimmer sah, machte er große Augen. »Christian, um Himmels willen …«
Dr. Rainier genügte ein einziger Blick – auf mich, das Zimmer und das zerwühlte Bettzeug auf dem Boden –, und sie wurde kreidebleich. »Mein Gott!« Sie packte mich an denSchultern und sah mir ins Gesicht. »Was war da los, Christian? Was hast du gesehen?«
»Hä?«, machte Onkel Hank. »Was meinst du denn damit, Helen?«
»Die Lösung! Ich hab die Lösung!«, stieß ich hervor. Ich hing in Dr. Rainiers Griff wie eine Lumpenpuppe oder ein hilfloses Baby. Vorhin hatte sich mein Kopf noch wunderbar leicht angefühlt, jetzt war mir nur noch schwindlig. »Ich … ich hab gesehen … wie …«
Meine Knie gaben nach, aber Dr. Rainier hielt mich am Arm fest, und Onkel Hank packte mich rasch am anderen Arm.
»Ist schon gut«, sagte er. »Wir haben dich, Christian, wir halten dich.«
»Oh …« Mir schnürte sich die Kehle zusammen, und ich konnte nicht weitersprechen. Wir standen zu dritt in meinem verwüsteten Zimmer. Die andere Seite drängte mit aller Macht herein, und in meinem Kopf drehte sich alles. Doch die beiden ließen mich nicht los, ließen mich nicht fallen.
Dr. Rainier sagte: »Erzähl’s uns, Christian. Was hast du gesehen?«
Ich leckte mir die
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