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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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eine gewesen war. Sie war ganz anders verlaufen als meine Träume und mein voriges Erlebnis in der Scheune. Diesmal war ich hellwach gewesen, und der Übergang hatte sich nahtlos vollzogen. Eben noch hier, im nächsten Augenblick dort. Immerhin ergab die Geschichte jetzt endlich einen Sinn – jedenfalls für David.
    Von dem Schluss mal abgesehen. Als die Wölfe auftauchten. Da war wieder alles durcheinandergeraten.
    Ich begriff, dass Mordechai Witeks Pinsel der Auslöser gewesen waren. Sonst hatte ich immer nur im Schlaf gemalt und gezeichnet. Die Pinsel hatten mir geholfen, klarer zu sehen.
    Vielleicht ging das ja allen Malern so – so, wie ein Schriftsteller Wörter zu Sätzen aneinanderfügt, die wiederum Absätze ergeben und schließlich eine ganze Geschichte. Bloß dass ein Maler seine Geschichte Strich für Strich, Farbtupfer für Farbtupfer erschafft.
    Keine Ahnung, warum sich Mr Witek ausgerechnet diesen Zeitpunkt ausgesucht hatte, um sich in Gedanken mit mir kurzzuschließen. Oder warum die Bilder, die ich mit den Augen des kleinen Jungen gesehen hatte, diesmal so scharf umrissen gewesen waren. Die Antwort auf die Frage, was das Trauma ausgelöst hatte, dem sich David sein Leben lang nicht hatte stellen können, lag mir weniger auf der Zunge als auf der Pinselspitze.
    Ich hatte eine Eingebung. Vielleicht löste sich die allerletzte Blockade ja, wenn ich in Davids Nähe malte. Schließlich hatte Mr Witek schon einmal auf mich reagiert, als ichin seinem Zimmer gewesen war. Er hatte die Augen aufgeschlagen, mich angeschaut und mir seine Eindrücke von damals übermittelt. Er hatte gespürt, dass zwischen uns beiden eine Verbindung bestand. In seinem Zimmer im Heim, wo die Gemälde seines Vaters hingen, konnte ich seine Gedanken vielleicht gezielt anzapfen und aufmalen, was damals geschehen war. Ich würde die Ereignisse in Gedanken vor mir sehen, und sie würden durch meine Hände aufs Papier fließen. Hatte ich nicht auch den Wolf gemalt? War ich nicht eine Art Sprachrohr für Davids Gedanken? Eine halbe Stunde würde bestimmt reichen. Wenn ich das nächste Mal ins Altenheim ging, musste ich mich in Mr Witeks Zimmer schleichen. Vielleicht konnte mir Dr. Rainier ja dabei helfen.
    Ich fuhr gerade an einem Kürbisfeld vorbei, als mir etwas auffiel.
    Auf jedem Zaunpfosten entlang der Straße saß eine Krähe.
    Es waren bestimmt fünfzig, sechzig Vögel. Mindestens. Und kein einziger flatterte auf, als ich vorbeifuhr. Sie krächzten auch nicht. Sie blickten mich nur unverwandt an. Ich kam mir vor wie ein General bei der Truppenparade.
    Ich trat das Gaspedal durch, aber ihre Blicke folgten mir und mich überkam ein total ungutes Gefühl.
    Als ich ins Haus trat, kam Onkel Hank aus der Küche. Ich war immer noch mit meinem neuesten Plan beschäftigt, in Mr Witeks Zimmer zu malen, und hörte gar nicht, dass er mich ansprach. Ich nahm ihn erst wahr, als er mich am Arm fasste. »’tschuldige«, sagte ich und sah ihn an – und mir blieb fast das Herz stehen.
    Dr. Rainier … was war … »Was ist los, Onkel Hank?«
    »Helen – Dr. Rainier – hat eben angerufen. David Witek ist tot.«

XXVII
    Es traf mich wie ein Schlag in den Magen. Ich wankte die Treppe hoch in mein Zimmer und warf mich in meinen farbverklecksten, verschwitzten Klamotten bäuchlings aufs Bett. Auch auf den Armen hatte ich Farbe, die zu zähen Runzeln trocknete. Aber ich konnte mich nicht aufraffen, mich zu waschen und umzuziehen. Ich wollte niemanden sehen und schon gar nicht mit jemandem reden.
    Tot. Ich drückte das brennende Gesicht ins Kopfkissen. Das war so was von unfair ! Ich war schon so dicht dran gewesen. Was hatte Dr. Rainier gesagt? Kurz vor ihrem Tod werden viele Demente noch einmal ganz klar. Ich begriff, dass ich Davids Tod gespürt hatte. Anscheinend war ich eine Art Todesmagnet oder so was.
    Endlich kamen die Tränen. Ich schluchzte so heftig, dass es sich anfühlte, als würde meine Brust zerspringen. Vielleicht konnte ich mich ja zu Tode heulen – oder wenigstens in den Schlaf. Ich drückte das Gesicht fest ins Kissen, damit Onkel Hank nichts hörte. Ich hätte nicht gewusst, wie ich ihm meine Verzweiflung hätte erklären sollen.
    Wieso zögerte ich eigentlich noch, verdammt noch mal? Meine Eltern waren tot und warteten auf mich. Ich brauchte nur die Klinke zu malen und dann …
    Es klopfte. »Gehen sie weg«, sagte ich.
    »Nein.«
    Ich wälzte mich herum und stützte mich auf die Ellbogen. »Ich will aber mit niemandem

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