Der Zeitdieb
fanden meine Eltern, dass sich solch eine Umgebung nicht für ein Kind eignet. Sie machten sich Sorgen, unter welchen Umständen ich aufwuchs!« Sie lachte humorlos. »Ich bekam eine sehr sonderbare Erziehung. Mathematik, Logik, solche Dinge. Und dann, als ich etwas jünger war als du, kam eine Ratte in mein Zimmer, und plötzlich waren all die Dinge, an die ich geglaubt hatte, nicht mehr wahr.«
»Ich bin ein Mensch! Ich tue menschliche Dinge! Ich wüsste es, wenn…«
»Du musstest in der Welt leben«, sagte Susanne so sanft wie möglich. »Wie sonst hättest du lernen können, ein Mensch zu sein?«
»Und mein Bruder? Was ist mit ihm?«
Jetzt ist es soweit, dachte Susanne. »Er ist nicht dein Bruder. Ich habe ein bisschen gelogen. Entschuldige.«
»Aber vorhin hast du gesagt…«
»Ich wollte es dir vorsichtig beibringen«, meinte Susanne. »An solche Dinge muss man sich nach und nach gewöhnen. Er ist nicht dein Bruder, sondern du selbst.«
»Und wer bin ich?«
Susanne seufzte. »Du. Ihr beide seid… du.«
»Und dort saß ich, und dort lag sie«, sagte Frau Ogg. »Und dann kam das Kind heraus, kein Problem, aber das ist immer ein schwieriger Augenblick für die Mutter, und ich hatte ein sonderbares Gefühl…« Sie unterbrach sich und sah aus den Fenstern des Gedächtnisses. »Es… fühlte sich an, als hätte die Welt gestottert, und ich hielt das Baby und blickte nach unten, und da sah ich mich selbst bei der Entbindung, und ich sah zu mir auf, und ich sah auf mich hinab, und ich erinnere mich, dass ich sagte: ›Das ist ja eine schöne Bescherung.‹ Woraufhin sie, die ich war, erwiderte: ›Nie hast du ein wahreres Wort gesprochen, Frau Ogg.‹ Und dann wurde alles noch seltsamer, und plötzlich hielt ich – es gab nur noch ein Exemplar von mir – zwei Babys.«
» Zwillinge «, sagte Susanne.
»Man könnte sie Zwillinge nennen, ja«, sagte Frau Ogg. »Aber ich dachte immer, Zwillinge sind zwei kleine Seelen, die einmal geboren werden, nicht eine Seele, die zweimal geboren wird.«
Susanne wartete. Frau Ogg schien in der richtigen Stimmung zu sein, um ihre Schilderungen fortzusetzen.
»Und so fragte ich den Mann: ›Und jetzt?‹ Woraufhin er antwortete: ›Geht dich das irgendwas an?‹ Und ich sagte, er könne verdammt sicher sein, dass es mich etwas angeht, und er sah mir direkt in die Augen und begriff, dass ich nie ein Blatt vor den Mund nehme. Gleichzeitig dachte ich: Du hast Probleme, Mädchen, denn jetzt ist alles mystig geworden.«
»Mystisch?«, fragte die Lehrerin Susanne.
»Ja. Mit zusätzlicher Mystigkeit. Und wenn die Dinge mystig werden, kann man wirklich in Schwierigkeiten geraten. Aber der Mann lächelte nur und meinte, der Junge solle bei Menschen aufwachsen, bis er zum Mann geworden sei, und ich dachte: Na bitte, mystig durch und durch. Ich sah deutlich, dass er keine Ahnung hatte, was als Nächstes geschehen sollte. Alles lag bei mir.«
Frau Ogg zog an der Pfeife, und ihre Augen glitzerten durch den Rauch. »Ich weiß nicht, wie viel Erfahrung du mit solchen Dingen hast, Mädchen, aber manchmal, wenn die Hohen und Mächtigen große Pläne schmieden, denken sie nicht immer an die kleinen Details.«
Ja. Ich bin ein kleines Detail, dachte Susanne. Eines Tages kam es Tod in den Sinn, ein mutterloses Kind zu adoptieren, und ich bin ein kleines Detail. Sie nickte.
»Ich dachte, auf welche mystige Weise geht diese Sache weiter?«, fuhr Frau Ogg fort. »Ich meine, eigentlich befanden wir uns hier in dem Bereich, wo der Prinz als Schweinehirt aufwächst, bis sich ihm sein Schicksal offenbart. Aber heutzutage gibt es nicht mehr viele Jobs für Schweinehirten, und mit Stöcken Schweine vor sich her zu treiben ist auch nicht so toll, wie manche Leute glauben. Deshalb sagte ich: Nun, ich habe von Gilden in der Stadt gehört, die Findelkinder aus Barmherzigkeit aufnehmen und sich um sie kümmern. Und es gibt viele angesehene Männer und Frauen, die ihr Leben auf diese Weise begonnen haben. Niemand braucht sich deswegen zu schämen. Und sollte das Schicksal nicht pünktlich zur Stelle sein, hat er wenigstens einen guten Beruf gelernt, was zumindest ein Trost sein dürfte. Schweinehirten hingegen dürfen wohl kaum auf einen interessanten beruflichen Werdegang hoffen. Warum der strenge Blick, Fräulein?«
»Es war eine recht herzlose Entscheidung.«
»Jemand muss solche Entscheidungen treffen«, sagte Frau Ogg scharf. »Außerdem hatte ich viele Jahre lang Gelegenheit, Erfahrungen
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