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Der Zeitdieb

Der Zeitdieb

Titel: Der Zeitdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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zu sammeln, und dabei fiel mir auf: Wer es in sich hat zu glänzen, wird seinen Glanz auch durch sechs Schichten Schlamm offenbaren. Aber wer es nicht in sich hat, kann noch so viel putzen und polieren – er wird nie glänzen. Du bist vielleicht anderer Meinung, aber du warst nicht dabei.«
    Mit einem Streichholz stocherte Frau Ogg im Pfeifenkopf.
    Schließlich fuhr sie fort: »Und damit hatte es sich. Ich wäre natürlich geblieben, denn an jenem Ort gab es nicht einmal eine Krippe. Aber der Mann nahm mich beiseite, bedankte sich und meinte, es sei an der Zeit zu gehen. Warum hätte ich ihm widersprechen sollen? Ich spürte Liebe; sie lag in der Luft. Manchmal frage ich mich, wie alles ausging. Ja, manchmal denke ich darüber nach.«
     
    Es gab Unterschiede, musste Susanne zugeben. Zwei verschiedene Leben hatten ihre Spuren in den beiden Gesichtern hinterlassen. Die beiden Teile des einen Selbst waren in einem Abstand von einer Sekunde geboren worden, und in einer Sekunde kann sich das Universum sehr verändern.
    Stell dir eineiige Zwillinge vor, dachte Susanne. Sie sind zwei verschiedene Personen, die ihr Leben mit gleich aussehenden Körpern beginnen. Es sind nicht zwei identische Personen, die mit dem gleichen Selbst anfangen.
    »Er sieht mir wirklich sehr ähnlich«, sagte Lobsang, und Susanne blinzelte. Sie beugte sich tiefer zum bewusstlosen Jeremy hinab.
    »Sag das noch einmal«, forderte sie den Novizen auf.
    »Er sieht mir wirklich sehr ähnlich«, sagte Lobsang.
    Susanne sah zu Lady LeJean, die nickte. »Ich habe es ebenfalls gesehen, Susanne.«
    »Wer hat was gesehen?«, fragte Lobsang. »Was verbergt ihr?«
    »Seine Lippen haben sich bewegt, als du gesprochen hast.« Susanne griff nach einer schlaffen Hand und zwickte in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger.
    Lobsang zuckte zusammen und sah auf seine eigene Hand hinab. Die weiße Haut rötete sich an einer Stelle.
    »Es sind nicht nur Gedanken«, stellte Susanne fest. »Auf so geringe Entfernung spürst du auch seinen Schmerz. Und deine Sprache kontrolliert seine Lippen.«
    Lobsang blickte auf Jeremy hinab.
    »Was passiert, wenn er zu sich kommt?«, fragte er langsam.
    »Das würde ich auch gern wissen«, erwiderte Susanne. »Vielleicht wäre es besser, wenn du dich dann an einem anderen Ort aufhältst.«
    »Aber ich soll hier sein!«
    »Aber wir nicht«, meinte Lady LeJean. »Ich weiß, auf welche Weise die anderen vorgehen. Bestimmt diskutieren sie darüber, was es zu unternehmen gilt. Die Schilder werden sie nicht auf Dauer aufhalten. Und mir sind die weichen Pralinen ausgegangen.«
    »Wie sollst du dich verhalten, wenn du den Ort erreicht hast, an dem du sein sollst?«, fragte Susanne.
    Lobsang streckte den Arm aus, und seine Finger berührten Jeremys Hand. Die Welt wurde weiß.
    Susanne fragte sich später, ob es im Zentrum einer Sonne so aussah. Dort war es nicht gelb, und man sah kein Feuer. Es gab das brennende, lodernde Weiß überlasteter Sinne, die alle gleichzeitig schrien.
    Allmählich verblasste das Weiß zu einem Dunst. Die Wände des Zimmers erschienen, aber Susanne konnte durch sie hindurchsehen. Jenseits davon gab es andere Wände und andere Zimmer, transparent wie Eis und nur an den Kanten sichtbar, wenn das Licht darauf fiel. In jedem Raum stand eine andere Susanne, drehte den Kopf und sah sie an.
    Die Zimmer setzten sich endlos fort.
    Susanne war vernünftig. Sie wusste, dass dies ein wichtiger Charakterfehler war. Es machte einen weder beliebt noch fröhlich. Man bekam auch nicht automatisch Recht, und diesen Punkt empfand Susanne als besonders unfair. Aber man gewann an Sicherheit, und derzeit war sie sicher, dass die aktuellen Ereignisse in keinem gewöhnlichen Sinne real waren.
    Das allein stellte noch kein Problem dar. Den meisten Dingen, mit denen sich Menschen befassten, fehlte es an Realität. Aber manchmal begegnete das Selbst der vernünftigsten Person einem so großen, komplexen und fremdartigen Etwas, dass es sich Geschichten darüber erzählte. Wenn es anschließend den Eindruck gewann, die Geschichten zu verstehen, glaubte das Ich, das Unverständliche verstanden zu haben. Susanne begriff, dass sich ihr Bewusstsein derzeit eine Geschichte erzählte.
    Sie vernahm ein Geräusch wie von großen, schweren Metalltüren, die sich schlossen, eine nach der anderen, immer schneller und lauter…
    Das Universum gelangte zu einer Entscheidung.
    Die gläsernen Zimmer verschwanden. Dunst verhüllte die Wände. Farben

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