Der Zeitdieb
sich nicht natürlich verhalten, wenn man alles andere als natürlich ist, und… ›Zwillinge‹ ist nicht ganz das richtige Wort…«
»Ein Bruder«, sagte Lobsang. »Der Konstrukteur der Uhr?«
»Ja«, bestätigte Susanne.
»Aber ich war ein Findelkind!«
»Er ebenfalls.«
»Ich will sofort zu ihm!«
»Das ist vielleicht keine gute Idee«, sagte Susanne.
»An deiner Meinung bin ich nicht interessiert, besten Dank.« Lobsang wandte sich an Lady LeJean.
»Am Ende des Ganges dort?«
»Ja. Aber er schläft. Ich glaube, die Uhr hat sein Bewusstsein durcheinander gebracht, und bei dem Kampf bekam er etwas ab. Er spricht im Schlaf.«
»Was sagt er?«
»Bevor ich ihn verließ und euch begegnete, sagte er: ›Wir sind ganz nahe. Jeder Weg ist richtig‹«, meinte Ihre Ladyschaft. Sie musterte Lobsang und Susanne. »Habe ich schon wieder etwas Falsches gesagt?«
Susanne hielt sich die Ohren zu. Lieber Himmel…
» Ich habe das gesagt«, kam es von Lobsangs Lippen. »Kurz nachdem wir die Treppe heraufkamen.« Er starrte Susanne an.
»Zwillinge, nicht wahr? Ich habe von so etwas gehört! Was der eine denkt, denkt auch der andere.«
Susanne seufzte. Manchmal bin ich wirklich ein Feigling, dachte sie. »Etwas in der Art, ja«, erwiderte sie.
»Ich gehe zu ihm, auch wenn er schläft!«
Verdammt!, fuhr es Susanne durch den Sinn, und sie eilte Lobsang nach, als er durch den Gang schritt. Die Revisorin folgte ihnen und wirkte besorgt.
Jeremy lag auf einem Bett, obwohl dieses in dieser zeitlosen Welt nicht weicher war als sonst irgendetwas. Lobsang blieb stehen und riss die Augen auf.
»Er sieht… mir sehr ähnlich«, sagte er.
»O ja«, bestätigte Susanne.
»Er ist vielleicht ein bisschen dünner.«
»Könnte sein, ja.«
»Und er hat… andere Falten im Gesicht.«
»Ihr habt verschiedene Leben geführt«, sagte Susanne.
»Wie hast du von ihm und mir erfahren?«
»Mein Großvater, äh, interessiert sich für solche Dinge. Und ich selbst habe noch etwas mehr herausgefunden.«
»Warum sollten wir jemanden interessieren? Wir sind nichts Besonderes.«
»Dies ist sehr schwer zu erklären.« Susanne drehte den Kopf und sah Lady LeJean an.
»Wie sicher sind wir hier?«
»Die Schilder haben die anderen verwirrt«, sagte Ihre Ladyschaft. »Meistens halten sie sich von diesem Ort fern. Ich, äh… sagen wir… habe mich um diejenigen gekümmert, die euch gefolgt sind.«
»Dann setz dich besser, Lobsang«, sagte Susanne. »Es hilft vielleicht, wenn ich dir von mir erzähle.«
»Nun?«
»Mein Großvater ist Tod.«
»Das klingt seltsam. Der Tod bedeutet das Ende des Lebens. Er ist keine Person…«
»PASS AUF, WENN ICH MIT DIR REDE…«
Eine plötzliche Windbö fauchte durchs Zimmer, und das Licht veränderte sich. Schatten huschten über Susannes Gesicht. Ein hellblaues Glühen umgab sie.
Lobsang schluckte.
Das Glühen verschwand zusammen mit den Schatten.
»Es gibt einen Vorgang namens Tod, und es gibt eine Person namens Tod«, sagte Susanne. »Ich bin Tods Enkelin. Kannst du mir bis hierher folgen?«
»Äh, ja, aber, ich meine, bis eben hast du ganz menschlich gewirkt«, erwiderte Lobsang.
»Meine Eltern waren Menschen. Es gibt mehr als nur eine Art von Genetik.« Susanne zögerte. »Auch du siehst menschlich aus. Menschliches Aussehen gilt in dieser Gegend seit einiger Zeit als der letzte Schrei. Du würdest staunen.«
»Aber ich bin ein Mensch!«
Susanne lächelte schief. Bei jemandem, der weniger selbstbewusst war, hätte es vielleicht nervös gewirkt.
»Ja«, entgegnete sie. »Und nein.«
»Nein?«
»Nimm zum Beispiel Krieg«, sagte Susanne und machte einen verbalen Umweg. »Er ist groß. Lacht gern und laut. Neigt dazu, nach dem Essen zu furzen. Ein ganz normaler Bursche. Ebenso normal wie Tod. Krieg hat menschliche Gestalt, weil Menschen das Konzept… der Konzepte entwickelten. Leute wie Krieg denken in menschlichen Bahnen…«
»Lass uns zum ›Ja, und nein‹ zurückkommen.«
»Deine Mutter ist Zeit.«
»Niemand weiß, wer meine Mutter ist!«
»Ich könnte dich zu der Hebamme bringen«, sagte Susanne. »Dein Vater holte die beste auf der ganzen Welt. Sie übernahm die Entbindung. Deine Mutter ist Zeit.«
Lobsang saß mit offenem Mund da.
»Für mich war es leichter«, sagte Susanne. »Als ich ganz klein war, erlaubten meine Eltern, dass ich meinen Großvater besuchte. Ich dachte damals, jeder Opa hätte einen langen schwarzen Kapuzenmantel und ritte ein weißes Pferd. Und dann
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