Der Zeitdieb
Munition.«
Lady LeJean schloss zu ihr auf.
»Oh«, sagte sie. »Dort werden Pralinen hergestellt?«
»Pinkelt ein Bär im Wald?«, fragte Susanne und erkannte ihren Fehler sofort. 16
Zu spät. Lady LeJean dachte einige Sekunden nach.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Ja, ich glaube, bei den meisten Bärenarten kommt es tatsächlich zu derartigen Ausscheidungen, zumindest in den Regionen mit gemäßigtem Klima. Allerdings gibt es auch welche, die…«
»Ich wollte sagen: Ja, dort werden Pralinen hergestellt«, unterbrach Susanne die Revisorin.
Eitelkeit, Eitelkeit, dachte Lu-Tze, als der Milchwagen durch die stille Stadt rumpelte. Ronnie wäre wie ein Gott gewesen, und solche Leute verstecken sich nicht gern. Sie verbergen sich nicht wirklich. Sie hinterlassen kleine Hinweise, ein smaragdgrünes Täfelchen, Schriftzeichen in einem Wüstengrab, irgendetwas, das dem aufmerksamen Forscher mitteilte: Ich war hier und ich war mächtig.
Vor was hatten die ersten Menschen sonst noch Angst gehabt? Vielleicht vor der Nacht. Vor Kälte, Bären, Winter, Sternen. Vor dem endlosen Himmel. Vor Spinnen und Schlangen. Voreinander. Die Menschen hatten sich vor vielen Dingen gefürchtet.
Lu-Tze holte das recht abgenutzte Buch des Weges hervor und öffnete es an einer beliebigen Stelle.
Koan 97: »Verhalte dich anderen gegenüber so, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollten.« Hmm. Keine große Hilfe. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er in diesem Fall alles richtig aufgeschrieben hatte, obgleich die Weisheit zweifellos funktionierte: Er hatte im Wasser lebende Säugetiere immer in Ruhe gelassen und war seinerseits nie von ihnen belästigt worden.
Er versuchte es noch einmal.
Koan 124: »Es ist erstaunlich, was man sieht, wenn man die Augen offen hält.«
»Was ist das für ein Buch, Mönch?«, fragte Ronnie.
»Oh, nur ein… kleines Buch«, erwiderte Lu-Tze und sah sich um.
Der Wagen kam an einem Beerdigungsinstitut vorbei. Der Eigentümer hatte in ein großes Schaufenster aus Tafelglas investiert, obwohl ein Leichenbestatter eigentlich nicht viel anzubieten hat, das in einem Schaufenster gut aussieht. Für gewöhnlich begnügten sie sich mit schwarzen Vorhängen und der einen oder anderen geschmackvollen Urne.
In diesem Fall zeigte das Schaufenster auch den Namen des fünften Reiters der Apokalypse.
»Ha!«, sagte Lu-Tze leise.
»Ist irgendetwas komisch, Mönch?«
»Eigentlich schon, wenn man darüber nachdenkt«, erwiderte Lu-Tze. Die Worte galten nicht nur Ronnie, sondern auch ihm selbst. Er drehte sich zur Seite und streckte die Hand aus.
»Freut mich, dich kennen zu lernen«, sagte er. »Lass mich deinen Namen raten.«
Und er nannte ihn.
Entgegen ihrer Gewohnheit hatte sich Susanne nicht exakt ausgedrückt. Wienrich und Böttcher stellten keine Pralinen her – ebenso gut konnte man behaupten, Leonard da Quirm sei ein anständiger Maler, der gern mit Dingen herumspielte. Oder man konnte Tod als jemanden bezeichnen, dem man nicht jeden Tag begegnen wollte. Diese Beschreibungen trafen zwar zu, aber sie erzählten nicht die ganze Geschichte.
Wienrich und Böttcher kreierten Pralinen. Das ist ein wichtiger Unterschied. 17 Der exklusive Laden verkaufte zwar die Resultate, aber man ließ sich nicht auf das Niveau hinab, mit den Köstlichkeiten im Schaufenster zu prahlen. Das hätte… zu viel Eifer ausgedrückt. Normalerweise präsentierte das Schaufenster von W & B Vorhänge aus Seide und Samt, außerdem einen Porzellanteller, auf dem eine der speziellen Pralinen oder höchstens drei der berühmten glasierten Karamellen lagen. Preisschilder gab es nicht. Wer nach dem Preis der Pralinen von W & B fragen musste, konnte sie sich nicht leisten. Und wenn man eine probierte und sie sich nicht leisten konnte… Dann geizte und sparte man, stahl und verkaufte Verwandte, nur für eine jener Delikatessen, die sich in die Zunge verliebten und die Seele in Schlagsahne verwandelten.
Vor dem Schaufenster gab es einen direkten kleinen Abfluss im Pflaster, bestimmt für Leute, denen der Speichel von den Lippen tropfte.
Wienrich und Böttcher waren Ausländer, und die Konditorgilde in Ankh-Morpork vertrat die Ansicht, dass sie sich nicht mit den Besonderheiten der städtischen Geschmacksknospen auskannten.
Die Bewohner von Ankh-Morpork, so hörte man von der Gilde, waren herzhafte, sachlich denkende Leute, die keine mit Kakaolikör gefüllten Pralinen wollten und nichts von schwächlichen, affektierten
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