Der Zeitdieb
bin stärker. Du bist mein Anker, meine Verbindung zu dieser Welt. Hast du eine Ahnung, wie schwer sie unter so vielen anderen zu finden ist? Bring mich zur Uhr…
Susanne wandte sich um und drückte die Zuckergussspritze der stöhnenden Myria in die Hand. »Nimm das. Und besorg dir eine… Schlinge oder so. Ich möchte, dass du so viele Schokoladeneier wie möglich trägst, außerdem auch Pralinen mit Creme- und Likörfüllung. Verstanden? Du schaffst es!«
Bei den Göttern, es gab keine Wahl. Das arme Wesen brauchte moralischen Auftrieb. »Bitte, Myria. Und das ist ein dummer Name! Du bist nicht viele, sondern eine. Sei einfach… du selbst. Unity… Das wäre ein geeigneter Name für dich.«
Die neue Unity hob den Kopf und zeigte ihr von Lidschatten verschmiertes Gesicht. »Ja, das stimmt. Ein guter Name…«
Susanne griff nach so vielen Schokoladenteilen, wie sie tragen konnte. Als sie ein Rascheln hörte, drehte sie sich um und sah, wie Unity Pralinen gleich kiloweise in…
… einer Art kirschrotem Beutel verstaute.
»Oh. Gut. Intelligenter Gebrauch zur Verfügung stehender Materialien«, sagte Susanne. Dann meldete sich die Lehrerin in ihr zu Wort und fügte hinzu: »Ich hoffe, du hast für alle genug mitgebracht.«
»Du warst der Erste«, sagte Lu-Tze. »Du hast praktisch den Grundstein für alles gelegt. Warst außerordentlich innovativ.«
»Das war damals«, erwiderte Ronnie Soak. »Heute ist alles anders.«
»Nicht mehr so wie früher«, pflichtete ihm Lu-Tze bei.
»Nimm nur Tod«, sagte Ronnie Soak. »Beeindruckend, zugegeben. Und wer sieht in Schwarz nicht gut aus? Aber… was ist der Tod eigentlich?«
»Nur ein langer Schlaf«, meinte Lu-Tze.
»Nur ein langer Schlaf«, bestätigte Ronnie Soak. »Und was die anderen betrifft… Krieg? Wenn er so schlimm ist – warum lassen sich die Leute dann immer wieder darauf ein?«
»Praktisch ein Hobby«, sagte Lu-Tze und begann damit, sich eine Zigarette zu rollen.
»Praktisch ein Hobby«, wiederholte Ronnie Soak. »Und Hunger und Pestilenz… Nun…«
»Ein Kommentar erübrigt sich«, sagte Lu-Tze voller Anteilnahme.
»Genau. Ich meine, Hunger ist natürlich schrecklich…«
»… in einer landwirtschaftlichen Gemeinschaft, aber man muss mit der Zeit gehen.« Lu-Tze schob sich die Zigarette zwischen die Lippen.
»Genau das ist es. Man muss mit der Zeit gehen. Ich meine, fürchtet der durchschnittliche Städter den Hunger?«
»Nein, er glaubt, dass die Lebensmittel in den Geschäften wachsen«, erwiderte Lu-Tze. Er fand allmählich Gefallen an dieser Sache. Achthundert Jahre lang hatte er die Gedanken seiner Vorgesetzten gelenkt, und die meisten von ihnen waren intelligent gewesen. Er beschloss, noch etwas mehr Ansporn zu geben.
»Feuer«, sagte er. »Davor fürchten sich die Städter. Das ist eine neue Sorge. Der primitive Dorfbewohner dachte, Feuer sei etwas Gutes. Es hielt die Wölfe fern. Und wenn die Hütte niederbrannte… Baumstämme und Torf waren billig zu haben. Aber jetzt wohnt er in einer Straße mit überfüllten Holzhäusern, und alle kochen daheim…«
In Ronnies Augen blitzte es.
»Feuer? Feuer ? Nur ein Halbgott! Irgendein kleiner Narr stibitzt den Göttern eine Flamme und wird dadurch unsterblich. Was ist mit Ausbildung und Erfahrung?« Ein Funke löste sich von Ronnies Zeigefinger und zündete Lu-Tzes Zigarette an. »Was die Götter betrifft…«
»Emporkömmlinge, sie alle«, warf Lu-Tze ein.
»Genau! Die Leute verehrten sie, weil sie Angst vor mir hatten«, sagte Ronnie. »Wusstest du das?«
»Im Ernst?«, fragte Lu-Tze unschuldig.
Ronnie ließ die Schultern hängen. »Nun, das war damals. Heute ist alles anders. Ich bin nicht mehr das, was ich einmal war.«
»Nein, nein, natürlich nicht«, sagte Lu-Tze in tröstendem Tonfall. »Aber es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. Angenommen, ein Mann… besser gesagt eine…«
»Anthropomorphe Personifizierung«, sagte Ronnie Soak. »Ich habe immer den Begriff ›Avatara‹ vorgezogen.«
Lu-Tze runzelte die Stirn. »Ich schätze, das hat nichts mit einem Aviarium zu tun, oder?«
»Vögel spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle.«
»Tschuldigung. Nun, angenommen, ein Avatara – herzlichen Dank –, der seiner Zeit vielleicht um einige tausend Jahre voraus ist… Angenommen, er sieht sich aufmerksam um… Er müsste zu dem Schluss gelangen, dass die Welt wieder für ihn bereit ist.«
Lu-Tze legte eine kurze Pause ein. »Mein Abt hält dich
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