Der Zeitdieb
Vorstellungen von etwas entwickelten, das vor allem anderen existiert hatte. Und ein Reiter nimmt die Geräusche der Welt wahr. Die Leute in den Lehmhütten und Zelten – ihnen war instinktiv klar geworden, dass die Welt auf gefährliche Weise durch ein komplexes und gleichgültiges Multiversum wirbelte, dass nur die Dicke eines Spiegels das Leben von der Kälte des Alls und den Tiefen der Nacht trennte. Sie wussten: Was sie Realität nannten, das Netz aus Regeln, die das Leben bestimmten, war nichts weiter als eine Schaumblase auf einer Welle. Sie fürchteten den alten Kaos. Aber heute…
Er öffnete die Augen und blickte auf seine dunklen, dampfenden Hände.
»Wer bin ich jetzt?«, fragte er die Welt im Großen und Ganzen.
Lu-Tze hörte, wie seine Stimme aus dem Nichts kam, erst langsam und dann schneller: »… mehr…«
»Jetzt ist das Ding wieder aufgezogen«, sagte eine junge Frau vor ihm. Sie trat zurück und bedachte ihn mit einem kritischen Blick. Zum ersten Mal seit achthundert Jahren hatte Lu-Tze das Gefühl, bei irgendetwas ertappt worden zu sein. Die Frau schien in seinen Kopf zu sehen und dort herumzukramen.
»Ich nehme an, du bist Lu-Tze«, sagte Susanne. »Ich bin Susanne Sto Helit. Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Du warst in der Zeitlosigkeit erstarrt, aber nicht für sehr lange. Wir müssen Lobsang zur gläsernen Uhr bringen. Kannst du uns helfen? Lobsang hält dich ein bisschen für einen Aufschneider.«
»Nur ein bisschen? Das überrascht mich.« Lu-Tze sah sich um. »Was ist hier passiert?«
Abgesehen von den überall herumstehenden Statuen war die Straße leer. Hier und dort lagen bunte Papierfetzen, und an der Mauer hinter dem Kehrer verlief ein langer Streifen, der nach Schokolade aussah.
»Einige sind entkommen«, sagte Susanne und hob etwas auf, von dem Lu-Tze hoffte, dass es eine große Zuckergussspritze war. »Die meisten von ihnen kämpften gegeneinander. Würdest du versuchen, jemanden wegen einer Praline mit Kaffeecreme zu zerfetzen?«
Lu-Tze sah in die Augen der jungen Frau. Im Lauf von achthundert Jahren lernte man, einen Eindruck von Personen zu gewinnen. Susanne war eine Geschichte, die weit zurück reichte. Vermutlich kannte sie sogar die Regel Eins und scherte sich nicht darum. Solchen Leuten begegnete man besser mit Respekt. Andererseits durfte man jemandem wie Susanne nicht ganz seinen Willen lassen.
»Meinst du die gewöhnliche Art oder die andere mit der Kaffeebohne oben drauf?«, fragte er.
»Die Art ohne Kaffeebohne«, sagte Susanne und hielt dem Blick stand.
»Nnn-nein. Nein, ich glaube nicht«, beantwortete Lu-Tze die Frage.
»Sie lernen«, erklang die Stimme einer anderen Frau hinter dem Kehrer. »Einigen ist es gelungen, erfolgreich Widerstand zu leisten. Wir können lernen. Dadurch werden Menschen zu Menschen.«
Lu-Tze musterte die Fremde. Sie sah aus wie eine feine Dame, die einen schlechten Tag in einer Dreschmaschine hinter sich hatte.
»Um alles richtig zu verstehen…«, sagte er und sah die beiden Frauen nacheinander an. »Ihr habt die grauen Leute mit Pralinen bekämpft?«
»Ja«, bestätigte Susanne und spähte um die Ecke. »Die Sinne sind überfordert, und dadurch bricht das morphische Feld zusammen. Kannst du gut werfen? Unity, gib ihm so viele Schokoladeneier, wie er tragen kann. Der Trick besteht darin, sie so hart aufprallen zu lassen, dass es möglichst viele Splitter gibt.«
»Wo ist Lobsang?«, fragte Lu-Tze.
»Nun, man könnte sagen, dass er im Geiste bei uns weilt.«
Blaue Funken blitzten in der Luft.
»Anfangsschwierigkeiten«, fügte Susanne hinzu.
Jahrhunderte der Erfahrung kamen Lu-Tze zu Hilfe.
»Er wirkte immer wie jemand, der sich finden muss«, sagte er.
»Ja. Und es war eine ziemliche Überraschung für ihn. Gehen wir.«
Tod sah auf die Welt hinab. Die Zeitlosigkeit hatte jetzt den Rand erreicht und breitete sich mit Lichtgeschwindigkeit ins Universum aus. Die Scheibenwelt glich einer kristallenen Skulptur.
Es war nicht nur eine Apokalypse. Davon hatte es viele gegeben: kleine Apokalypsen, nicht die richtige, große Sache. Scheinbare Apokalypsen. Apokryphe Apokalypsen. Die meisten davon hatten sich damals ereignet, als »das Ende der Welt« nur einige Dörfer und eine Lichtung im Wald betraf.
Und diese kleinen Welten hatten tatsächlich ein Ende gefunden. Aber es gab immer einen anderen Ort, angefangen am Horizont. Die Flüchtlinge stellten fest, dass die Welt größer war als bisher angenommen.
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