Der Zeitdieb
Mal sehen… Stell dir die kleinste mögliche Zeiteinheit vor. Wirklich klein. So klein, dass eine Sekunde im Vergleich dazu wie eine Milliarde Jahre wäre. Verstanden? Nun, das kosmische Quantenticken – so nennt es der Abt –, das kosmische Quantenticken ist noch viel kleiner. Gemeint ist die Zeit, die nötig ist, um vom Jetzt zum Dann zu gelangen. Die Zeit, die ein Atom braucht, um ans Wackeln zu denken. Die Zeit…«
»Die Zeit, die für das kleinste mögliche Ereignis nötig ist, um sich zu ereignen?«, fragte Lobsang.
»Genau, bravo«, erwiderte Lu-Tze. Er atmete tief durch. »Es ist auch die Zeit, die nötig ist, um das ganze Universum in der Vergangenheit zu zerstören und in der Zukunft neu zu erschaffen. Sieh mich nicht so an – der Abt sagt das.«
»Geschieht das auch, während wir miteinander sprechen?«, fragte Lobsang.
»Millionen Male. Vermutlich ein Zuhaufmal.«
»Wie viel ist das?«
»Das Wort stammt vom Abt. Es bedeutet eine größere Zahl, als man sich in einer halben Ewigkeit vorstellen kann.«
»Wie lang ist eine halbe Ewigkeit?«
»Ziemlich lang.«
»Und wir merken nichts davon? Das Universum wird zerstört, und wir spüren überhaupt nichts?«
»Angeblich nicht. Als man es mir zum ersten Mal erklärte, wurde ich ein wenig nervös, aber es geht viel zu schnell, als dass wir etwas fühlen könnten.«
Lobsang starrte eine Zeit lang auf den Schnee hinab. »Na schön«, sagte er dann. »Fahr fort.«
»Jemand in Überwald baute eine Uhr aus Glas. Angetrieben von Blitzen, wenn ich mich recht entsinne. Irgendwie schaffte sie es, mit dem Universum zu ticken.«
»Warum sollte jemand eine solche Uhr bauen wollen?«
»Meine Güte, der Bursche wohnte in einem großen alten Schloss auf einem Felsen in Überwald. Solche Leute brauchen keinen besonderen Grund, abgesehen von ›weil ich es kann‹. Sie haben einen Albtraum und versuchen, ihn Wirklichkeit werden zu lassen, kapiert?«
»Aber… eine solche Uhr kann man gar nicht bauen, weil sie sich im Innern des Universums befände. Sie… müsste damit rechnen, zusammen mit dem Universum zerstört und wieder erschaffen zu werden.«
Lu-Tze war beeindruckt und sagte es auch: »Ich bin beeindruckt.«
»Genauso gut könnte man versuchen, eine Kiste mit der Brechstange zu öffnen, die in der Kiste liegt.«
»Der Abt glaubt, dass ein Teil der Uhr außerhalb des Universums existierte.«
»Es kann nichts außerhalb des…«
»Sag das dem Mann, der sich seit neun Leben mit diesem Problem befasst«, meinte Lu-Tze. »Möchtest du den Rest der Geschichte hören?«
»Ja, Kehrer.«
» Nun… damals waren die Mönche ziemlich beansprucht, aber es gab da einen jungen Kehrer…«
»Du meinst dich selbst«, warf Lobsang ein. »Das stimmt doch?«
»Ja, ja«, sagte Lu-Tze gereizt. »Man schickte mich nach Überwald. In der historischen Struktur gab es noch keine großen Unterschiede, und wir wussten, dass im Bereich von Bad Schüschein etwas Wichtiges passieren würde. Wochenlang habe ich gesucht. Weißt du, wie viele abgelegene Schlösser es in den Schluchten gibt? Es wimmelt davon!«
»Deshalb hast du das richtige Schloss nicht rechtzeitig gefunden«, vermutete Lobsang. »Ich habe gehört, was du dem Abt gesagt hast.«
»Ich hielt mich im Tal auf, als der Blitz den Turm traf«, berichtete Lu-Tze. »Du weißt ja, dass geschrieben steht: ›Große Ereignisse werfen ihren Schatten voraus.‹ Aber ich konnte nicht feststellen, wo es geschehen würde – bis es zu spät war. Eine halbe Meile bergauf sprinten, schneller als der Blitz… Niemand kann das. Trotzdem hätte ich es fast geschafft. Ich war gerade durch die Tür, als das Chaos ausbrach!«
»Du hast wirklich keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen.«
»Nein. Aber du weißt ja, wie das ist. Man denkt immer wieder: ›Wenn ich früher aufgestanden wäre oder einen anderen Weg genommen hätte…‹«
»Und die Uhr schlug«, sagte Lobsang.
»Nein. Sie blieb stehen. Wie gesagt: Ein Teil von ihr befand sich außerhalb des Universums und bewegte sich nicht mit dem Fluss. Dieser Teil versuchte, das Ticken zu messen, anstatt sich mit ihm zu bewegen.«
»Aber das Universum ist gewaltig! Es kann doch nicht von einer Uhr angehalten werden!«
Lu-Tze schnippte den Zigarettenstummel ins Feuer.
»Der Abt meint, es käme nicht auf die Größe an«, sagte er. »Hör mal, er hat neun Leben gebraucht, um zu wissen, was er weiß. Es ist also nicht unsere Schuld, wenn wir es nicht verstehen. Die historische
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