Der Zeitdieb
Großvater holen. Glaub nur nicht, dass ich ihn nicht sehe. Ich habe auch oft an Todesbetten gesessen. Aber Todesbetten sind meistens öffentlich, im Gegensatz zu Geburtsbetten, wenn die betreffende Dame Wert auf ihre Privatsphäre legt. Also geh nur und hol den anderen – ich spucke ihm ins Auge.«
»Dies ist sehr wichtig, Frau Ogg.«
»Da hast du völlig Recht«, entgegnete Frau Ogg fest.
»Ich weiß nicht, wann es geschah. Es könnte sogar letzte Woche gewesen sein. Die Zeit ist der springende Punkt.«
Frau Ogg versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber Susanne hielt aufmerksam genug Ausschau, um das kurze Glitzern in ihren Augen zu bemerken.
Der Sessel neigte sich abrupt nach hinten, als die Hexe aufsprang, doch Susanne erreichte den Kaminsims vor ihr und griff nach einem ganz bestimmten Objekt, das zwischen den anderen Gegenständen versteckt und doch ganz deutlich zu sehen war.
»Gib das sofort her!«, rief Frau Ogg, als Susanne es außerhalb ihrer Reichweite hielt.
Tods Enkelin spürte die Kraft des Objekts. Es schien fast in ihrer Hand zu pulsieren.
»Hast du eine Ahnung, was dies ist, Frau Ogg?«, fragte sie und öffnete die Hand. Zum Vorschein kam ein kleines Stundenglas.
»Es ist eine Eieruhr, die nicht funktioniert!« Die alte Hexe nahm so plötzlich in ihrem Sessel Platz, dass ihre Füße kurz den Bodenkontakt verloren.
»Für mich sieht’s nach einem Tag aus, Frau Ogg. Zeit im Wert von einem Tag.«
Frau Ogg sah erst Susanne an und richtete den Blick dann auf das kleine Stundenglas in ihrer Hand.
»Ich wusste, dass etwas Sonderbares daran ist«, sagte sie. »Der Sand rieselt nicht in die untere Hälfte, wenn man sie umdreht.«
»Weil du die Zeit noch nicht brauchst, Frau Ogg.«
Nanny Ogg schien sich zu entspannen. Einmal mehr erinnerte sich Susanne daran, dass sie es mit einer Hexe zu tun hatte. Hexen blieben immer wachsam.
»Ich habe das Ding behalten, weil ich es geschenkt bekam«, sagte Frau Ogg. »Und weil es hübsch ist. Was bedeuten die Worte am Rand?«
Susanne las die in den kleinen Metallsockel der Lebensuhr geritzten Worte: Tempus Redux. »Zurückgegebene Zeit«, übersetzte sie.
»Ah, ich verstehe«, sagte Frau Ogg. »Der Mann meinte, er würde sich für meine Zeit erkenntlich zeigen.«
»Der Mann?«, hakte Susanne vorsichtig nach.
Nanny Ogg sah auf, und in ihren Augen loderte es.
»Versuch nicht, den Umstand auszunutzen, dass ich ein wenig durcheinander bin«, sagte sie scharf. »Nanny Ogg legt man nicht herein!«
Susanne sah die Frau an, und diesmal nicht mit dem faulen Auge. Man legte Frau Ogg tatsächlich nicht herein, aber es gab eine andere Möglichkeit, ans Ziel zu gelangen: Der Weg führte direkt durch ihr Herz.
»Ein Kind sollte seine Eltern kennen, Frau Ogg«, sagte Susanne. »Heute mehr als jemals zuvor. Es sollte wissen, wer es wirklich ist. Es dürfte schwierig werden, und ich möchte ihm helfen.«
»Warum?«
»Weil ich froh gewesen wäre, wenn mir jemand geholfen hätte«, erwiderte Susanne.
»Ja, aber bei der Geburtshilfe gibt es Regeln«, betonte Nanny Ogg. »Man erzählt nicht, was gesagt wurde und was man gesehen hat. Über solche Dinge schweigt man, wenn die betreffende Frau Wert darauf legt.«
Die Hexe rutschte im Sessel zur Seite, und ihr Gesicht rötete sich. Sie möchte Auskunft geben, begriff Susanne. Alles in ihr drängt danach. Aber ich muss es richtig anstellen, damit sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren kann.
»Ich bitte nicht um Namen, Frau Ogg, denn ich nehme an, du kennst sie gar nicht«, fuhr Susanne fort.
»Da hast du Recht.«
»Aber das Kind…«
»Es hieß, dass ich keiner Menschenseele davon erzählen darf…«
»Nun, ich bin mir nicht sicher, ob eine solche Beschreibung auf mich passt«, sagte Susanne. Sie musterte die Hexe einige Sekunden. »Aber ich verstehe. Es muss Regeln geben. Danke für deine Zeit.«
Sie stand auf und stellte das kleine Stundenglas mit dem bewahrten Tag wieder auf den Kaminsims. Dann verließ sie das Haus und schloss die Tür hinter sich. Binky wartete am Tor. Sie stieg auf, und erst dann hörte sie, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde.
»Das hat er ebenfalls gesagt«, meinte Frau Ogg. »Als er mir die Eieruhr gab. ›Danke für deine Zeit, Frau Ogg‹, sagte er. Komm besser herein, Mädchen.«
Tick
Tod fand Pestilenz in einem Hospital im Llamedos. Pestilenz mochte solche Einrichtungen, denn dort gab es immer etwas für ihn zu tun.
Derzeit versuchte er, das »Jetzt die Hände
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