Der Zeitdieb
Frau Ogg lächelte. »Ich persönlich hatte in dieser Hinsicht nie Probleme, aber ich bin bei vielen Geburten zugegen gewesen und weiß daher: Wenn es für die junge Frau eine neue Erfahrung ist, so hat sie Angst. Und wenn dann die heiße Phase beginnt, falls du verstehst, was ich meine, schreit sie, verflucht den Vater und gäbe alles, um an einem andern Ort zu sein. Nun, die Frau in dem Schloss konnte sich diesen Wunsch erfüllen. Es stellte sich heraus, dass wir ganz schön in der Klemme gesteckt hätten, wenn der Mann nicht gewesen wäre.«
»Der Mann, der dich zum Schloss brachte?«
»Er hatte was Fremdländisches an sich, weißt du. Wie die mittwärtigen Leute: Völlig kahl. Ich erinnere mich daran, dass ich dachte: ›Du siehst wie ein junger Mann aus, mein Lieber. Aber wenn ich mich nicht sehr irre, siehst du schon ziemlich lange wie ein junger Mann aus.‹ Normalerweise hätte ich keinen Mann in der Nähe geduldet, aber er saß da und redete mit ihr in seinem fremdländischen Kauderwelsch, sang sogar Lieder und sprach Gedichte und beruhigte sie, und daraufhin kehrte sie zurück, erschien aus dem Nichts, und ich war bereit, und wir brachten es hinter uns, eins, zwei, drei. Und dann verschwand sie erneut. Und blieb gleichzeitig da, glaube ich. In der Luft.«
»Wie sah sie aus?«, fragte Susanne.
Frau Ogg warf ihr einen Blick zu. »Du musst berücksichtigen, aus welcher Perspektive ich die Dinge sah, während ich da saß. Ich meine, das Bild, das ich dir beschreiben könnte, eignet sich nicht gerade für einen Kalender, wenn du mir folgen kannst. Und außerdem sieht eine Frau unter solchen Umständen nie sehr gut aus. Sie war jung, hatte dunkles Haar…«
Frau Ogg füllte ihr Brandyglas, was einige Zeit in Anspruch nahm. »Und sie war auch alt, wenn du’s genau wissen willst. Nicht alt wie ich, sondern alt.«
Sie starrte ins Feuer. »Alt wie die Dunkelheit und die Sterne«, teilte sie den Flammen mit.
»Der Junge wurde vor der Tür der Diebesgilde zurückgelassen«, sagte Susanne, um das Schweigen zu brechen. »Man glaubte vermutlich, dass er aufgrund seiner besonderen Talente gut zurechtkommen würde.«
»Der Junge? Er? Was meinst du mit er ?«
Tick
Lady LeJean war stark.
Erst jetzt begriff sie, wie sehr Menschen von ihren Körpern kontrolliert wurden. Das Ding quengelte Tag und Nacht. Es war immer zu heiß, zu kalt, zu leer, zu voll, zu müde…
Sie glaubte, dass es in erster Linie auf Disziplin ankam. Revisoren waren unsterblich. Wenn sie ihren Körper nicht unter Kontrolle bringen konnte, so hatte sie keinen Körper verdient. Der Körper stellte eine der größten menschlichen Schwächen dar.
Und dann die Sinne. Revisoren besaßen Hunderte von Sinnen, denn alle möglichen Phänomene mussten zur Kenntnis genommen und aufgezeichnet werden. Jetzt standen Lady LeJean nur noch fünf zur Verfügung. Der Umgang mit nur fünf Sinnen sollte eigentlich recht einfach sein, aber offenbar standen sie in direkter Verbindung mit dem Rest des Körpers! Sie lieferten nicht nur Informationen, sondern stellten auch Forderungen!
Sie schritt an einer Bude vorbei, die gebratenes Fleisch anbot, und plötzlich lief ihr das Wasser im Mund zusammen! Der Geruchssinn verlangte vom Körper zu essen, ohne vorher das Gehirn zu konsultieren! Und das war noch nicht das Schlimmste! Das Gehirn dachte von ganz allein !
Einfach unerhört: die matschige Gewebemasse hinter den Augen arbeitete unabhängig vom Eigentümer vor sich hin. Sie empfing Informationen von den Sinnen, verglich sie mit Erinnerungen und präsentierte Möglichkeiten. Manchmal versuchten verborgene Teile des Gehirns, den Mund zu kontrollieren! Menschen waren gar keine Individuen; jeder Einzelne von ihnen kam einem Komitee gleich!
Einige andere Mitglieder des Komitees waren dunkel, rot und völlig unzivilisiert. Sie hatten sich dem Gehirn vor der Zivilisation hinzugesellt. Manche Teile waren an Bord gekommen, noch bevor der Mensch zum Menschen wurde. Und das Etwas, das das gemeinsame Denken erledigte, musste sich in der Dunkelheit des Gehirns darum bemühen, die ausschlaggebende Stimme zu behalten!
Nach gut zwei Wochen als Mensch sah sich die Entität namens Lady LeJean mit echten Schwierigkeiten konfrontiert.
Zum Beispiel die Nahrungsmittel. Revisoren brauchten nicht zu essen. Sie wussten, dass einfache Lebensformen sich gegenseitig fressen mussten, um Energie und Substanz für das Wachstum des eigenen Körpers zu erhalten. Allerdings erwies sich
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