Der Zeitdieb
befand sich nicht auf der Straße. Dafür bemerkte der Novize etwas anderes, ein Objekt, das dicht über dem Boden schwebte, genau dort, wo zuvor der alte Mönch gestanden hatte.
Es war ein kleines Glas, dem temporale Effekte einen bläulichen Ton gaben. Nun… wie viel Bewegungsenergie konnte in einem solchen Gegenstand stecken? Lobsang wölbte die Hand, schob sie vorsichtig unter das Glas und spürte jähes Gewicht, als es vom Zeitfeld des Zauderers erfasst wurde.
Jetzt kehrten die wahren Farben zurück. Das Glas war milchig rosarot, was aber nicht am Glas selbst lag, sondern an seinem Inhalt. Der Pappdeckel zeigte unglaublich makellose Erdbeeren, umgeben von kunstvoller Schrift:
Soak? Er kannte den Namen! Der Mann hatte der Gilde Milch gebracht! Gute, frische Milch, nicht das wässrige, grünliche Zeug, das andere Milchmänner lieferten. Sehr zuverlässig, meinten alle. Aber ob zuverlässig oder nicht: Er war nur ein Milchmann. Zugegeben, er war ein sehr guter Milchmann, aber die Zeit hatte angehalten, und eigentlich sollte er…
Lobsang sah sich verzweifelt um. In den Straßen herrschte noch immer das übliche Durcheinander aus Leuten und Karren. Niemand hatte sich bewegt. Niemand konnte sich bewegen.
Aber etwas lief am Rinnstein entlang. Es sah wie eine Ratte aus, die einen Kapuzenmantel trug und auf den Hinterbeinen lief. Sie sah zu Lobsang auf, und er bemerkte, dass sie keinen Kopf in dem Sinne hatte, eher einen Schädel. In diesem Fall wirkte der Schädel recht fröhlich.
Das Wort QUIEK formte sich hinter seiner Stirn, ohne den Umweg über die Ohren zu nehmen. Dann sprang die Ratte aufs Pflaster und verschwand in einer Gasse.
Lobsang folgte ihr.
Nur einen Augenblick später packte ihn jemand am Kragen. Er versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, stellte dabei fest, wie sehr er sich beim Kampf auf das Zeitschneiden verlassen hatte. Außerdem hielt ihn die unbekannte Person mit großer Entschlossenheit fest.
»Ich wollte nur gewährleisten, dass du keine Dummheiten machst«, erklang eine Stimme. Offenbar gehörte sie einer Frau. »Was ist das Ding auf deinem Rücken?«
»Wer bist…«
»In solchen Fällen verlangt es das Protokoll, dass man zuerst die Fragen der Person beantwortet, die den tödlichen Nackengriff anwendet«, sagte die Stimme.
»Äh, es ist ein Zauderer. Äh, er speichert Zeit. Wer…«
»Meine Güte, fängst du schon wieder an. Wie lautet dein Name?«
»Lobsang. Lobsang Ludd. Äh, könntest du mich bitte aufziehen? Es ist sehr dringend.«
»Oh, klar. Lobsang Ludd, du bist gedankenlos und impulsiv und verdienst es, einen dummen, sinnlosen Tod zu sterben.«
»Was?«
»Außerdem bist du schwer von Begriff. Meinst du diese Kurbel?«
»Ja. Meine Zeit wird knapp. Darf ich dich jetzt fragen, wer du bist?«
»Fräulein Susanne. Halt still.«
Lobsang hörte ein sehr willkommenes Geräusch: Das Uhrwerk des Zauderers wurde wieder aufgezogen.
»Fräulein Susanne?«, wiederholte er.
»So nennen mich die meisten Leute. Ich lasse dich jetzt los und rate dir dringend davon ab, irgendetwas Dummes anzustellen. Außerdem bin ich auf der ganzen Welt die einzige Person, die eventuell bereit wäre, erneut deine Kurbel zu drehen.«
Der Druck am Nacken ließ nach. Lobsang drehte sich langsam um.
Fräulein Susanne erwies sich als zierliche junge Frau, streng in Schwarz gekleidet. Das weißblonde Haar formte eine Art Aura um ihren Kopf und hatte eine schwarze Strähne. Doch das Eindrucksvollste an ihr war… alles, fand Lobsang. Einfach alles, von ihrem Gesichtsausdruck bis zu der Art, wie sie dastand. Manche Personen verschwanden im Hintergrund. Fräulein Susanne hingegen trat aus dem Vordergrund heraus. Die Dinge, vor denen sie stand, verwandelten sich in Hintergrund.
»Fertig?«, fragte sie. »Hast du alles gesehen?«
»Entschuldigung. Hast du einen Alten gesehen? Gekleidet wie ich? Mit solch einem Ding auf dem Rücken?«
»Nein. Jetzt bin ich an der Reihe. Hast du Rhythmus?«
»Was?«
Susanne rollte mit den Augen. »Na schön. Hast du Musik?«
»Nicht bei mir, nein!«
»Und eine Freundin hast du ganz bestimmt nicht«, sagte Fräulein Susanne. »Vor ein paar Minuten kam Des Alten Mannes Schwierigkeiten vorbei. Du solltest dich besser von ihm fern halten.«
»Könnte er meinen Begleiter weggebracht haben?«
»Das bezweifle ich. Übrigens ist Des Alten Mannes Schwierigkeiten eher ein Es als ein Er. Wie dem auch sei: Derzeit treiben sich weitaus schlimmere Burschen als er hier
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