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Der Zeitdieb

Der Zeitdieb

Titel: Der Zeitdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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ihr
    Gleichgewicht. Langsam hob sie die Hände und betrachtete sie, drehte sie hin und her. Dann ging sie zielstrebig los. Nach einigen Metern
    begegneten sie einer weiteren Gestalt, die aus einer Gasse kam.
    »Das ist ganz und gar nicht typisch für sie«, sagte Susanne, als das Paar hinter einer Ecke verschwand. »Sie haben etwas vor. Komm, wir folgen ihnen.«
    »Was ist mit Lu-Tze?«
    »Was soll schon mit ihm sein? Wie alt ist er?«
    »Achthundert, nach eigenen Angaben.«
    »Was bedeutet: Er ist schwer zu töten. Bei Ronnie dürfte er gut
    aufgehoben sein, solange er aufpasst und nicht widerspricht. Komm
    jetzt.«
    Sie eilten über die Straße.
    Weitere Revisoren erschienen, schritten an den erstarrten Karren und reglosen Passanten vorbei. Wie sich herausstellte, waren sie zum
    Hiergibt’salles-Platz unterwegs, einem der größten Plätze in der Stadt. Es war Markttag. Stumme, bewegungslose Leute standen an den
    Verkaufsbuden, und zwischen ihnen huschten graue Gestalten hin und
    her.
    »Es sind Hunderte«, sagte Susanne. »Und alle in menschlicher Gestalt.
    Offenbar eine Versammlung.«

    Herr Weiß verlor die Geduld. Bisher hatte er gar nicht gewusst, dass es so etwas überhaupt gab, denn in gewisser Weise war er durch und durch geduldig gewesen. Aber jetzt spürte er, wie sich die Geduld auflöste, und damit einher ging ein sonderbares, heißes Empfinden in seinem Kopf.
    Und wie konnte ein Gedanke heiß sein?
    Die versammelten inkarnierten Revisoren beobachteten ihn nervös.
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    »Ich bin Herr Weiß!«, teilte er dem glücklosen neuen Revisor mit, den man zu ihm geführt hatte. Er schauderte voller Erstaunen darüber, dass er den Singular verwenden konnte, ohne damit seine Existenz zu
    beenden.
    »Du kannst nicht ebenfalls Herr Weiß sein. Das hätte Verwirrung zur Folge.«
    »Aber uns gehen allmählich die Farben aus«, gab Herr Violett zu
    bedenken.
    »Das kann nicht der Fall sein«, erwiderte Herr Weiß. »Es gibt
    unendlich viele Farben.«
    »Aber nicht so viele Namen«, sagte Frau Maulwurfsgrau.
    »Das ist unmöglich. Eine Farbe muss einen Namen haben.«
    »Wir haben nur hundertunddrei Namen für Grün gefunden, bevor die
    Farbe entweder zu Blau oder Gelb wurde«, meinte Frau Scharlachrot.
    »Aber der Anzahl der Schattierungen sind keine Grenzen gesetzt!«
    »Was jedoch nicht für die Namen gilt.«
    »Dieses Problem muss gelöst werden. Setz es auf die Liste, Frau Braun.
    Es geht darum, alle möglichen Farbschattierungen zu benennen.«
    Eine der weiblichen Revisoren wirkte überrascht. »Ich kann nicht so
    viele Dinge im Kopf behalten«, sagte sie. »Und ich verstehe nicht, warum du Anweisungen erteilst.«
    »Abgesehen vom Renegaten habe ich die größte Erfahrung als
    Inkarnierter und bekleide dadurch einen höheren Rang.«
    »Deine fleischliche Existenz ist nur um einige wenige Sekunden
    länger«, sagte Frau Braun.
    »Das ist nebensächlich. Ich nehme den höchsten Rang ein, und das ist Fakt.«
    Das war Fakt. Revisoren respektierten Fakten. Fakt war auch, wusste
    Herr Weiß, dass mehr als siebenhundert Revisoren ziemlich unbeholfen durch die Straßen der Stadt gingen.
    Immer mehr Revisoren wurden von dem Unruheherd angezogen, aber
    Herr Weiß hatte den vielen Inkarnationen ein Ende gesetzt. Es war zu gefährlich. Das Beispiel des Renegaten zeigte deutlich, dass der
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    menschliche Körper den Geist zwang, in beunruhigenden Bahnen zu
    denken. Die Umstände verlangten große Vorsicht. Auch das war Fakt.
    Nur wer die Fähigkeit bewies, den Vorgang überleben zu können, durfte menschliche Gestalt annehmen, um das Werk zu vollenden. Das war
    Fakt.
    Revisoren respektierten Fakten. Zumindest bisher. Frau Braun trat
    einen Schritt zurück.
    »Es ist gefährlich, hier zu sein«, sagte sie. »Ich halte es für besser, unsere fleischliche Existenz aufzugeben.«
    Herr Weiß spürte, wie sein Körper darauf reagierte, indem er den
    Atem entweichen ließ.
    »Sollten wir unbekannte Dinge zurücklassen?«, erwiderte er.
    »Unbekannte Dinge sind gefährlich. Wir lernen viel.«
    »Was wir lernen, ergibt keinen Sinn«, sagte Frau Braun.
    »Je mehr wir lernen, desto mehr Sinn wird alles ergeben«, ließ sich Herr Weiß vernehmen. »Es gibt nichts, das wir nicht verstehen können.«
    »Ich verstehe nicht, warum ich jetzt den Wunsch verspüre, einen
    plötzlichen Kontakt zwischen meiner Hand und deinem Gesicht
    herzustellen«, sagte Frau Braun.
    »Genau das meine ich«, entgegnete Herr Weiß. »Du verstehst nicht,
    und

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