Der Zeitdieb
Druck und im Mund der
Geschmack des Weins zurück.
Lobsang stand vor der Uhr. Zeit war nicht zu sehen, aber das Lied, das nun durch die Zimmer wehte, klang anders.
»Sie ist glücklicher«, sagte Lobsang. »Und sie ist frei.«
Susanne sah sich um. Wen war zusammen mit dem Garten
verschwunden. Es gab nur noch endlose, gläserne Zimmer.
»Möchtest du nicht mit deinem Vater reden?«, fragte sie.
»Später«, erwiderte Lobsang. »Es gibt jede Menge Zeit. Dafür werde
ich sorgen.«
Seinen Worten haftete eine besondere Bedeutung an, die Susanne
veranlasste, sich umzudrehen.
»Du nimmst den Platz deiner Mutter ein?«, fragte sie. » Du bist jetzt die Zeit?«
»Ja.«
»Aber du bist größtenteils menschlich!«
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»Na und?« Lobsang lächelte wie sein Vater. Es war ein sanftes Lächeln, und für Susanne auch das ärgerliche Lächeln eines Gottes.
»Was befindet sich in all diesen Zimmern?«, fragte sie. »Weißt du das?«
»Ein perfekter Moment. In jedem einzelnen. Ein Zuhaufmal von
Zuhaufmalen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob es so etwas wie einen perfekten Moment gibt«, sagte Susanne. »Können wir jetzt heimkehren?«
Lobsang wickelte sich den Saum seines Umhangs um die Faust und
zerschlug die vordere Scheibe der Uhr. Scherben fielen zu Boden.
»Wenn wir auf der anderen Seite sind…«, sagte er. »Bleib nicht stehen, um zurückzusehen. Es dürften ziemlich viele Glassplitter durch die Luft fliegen.«
»Ich werde versuchen, hinter einer Bank in Deckung zu gehen«,
erwiderte Susanne.
»Wahrscheinlich gibt es dort gar keine Bänke.«
QUIEK?
Der Rattentod war an der Seite der Uhr emporgeklettert und blickte
munter über den oberen Rand.
»Was fangen wir mit ihm an?«, fragte Lobsang.
»Er kommt allein zurecht«, sagte Susanne. »Ich kümmere mich nie um
ihn.«
Lobsang nickte. »Nimm meine Hand.«
Susanne kam der Aufforderung nach.
Mit der freien Hand griff Lobsang nach dem Pendel und hielt die Uhr
an.
Ein blaugrünes Loch öffnete sich in der Welt.
Die Reise zurück ging wesentlich schneller, doch als die Welt wieder existierte, fiel Susanne ins Wasser. Es war braun und schlammig und
stank nach toten Pflanzen. Sie tauchte auf, widersetzte sich dem Zerren des nassen Kleids und trat Wasser, während sie sich zu orientieren
versuchte.
In Susannes Erziehung war großer Wert auf die praktischen Aspekte
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gelegt worden, und das bedeutete unter anderem Schwimmunterricht.
Das Internat für junge Damen in Quirm hatte in dieser Hinsicht recht hohe Maßstäbe angelegt. Die dortigen Lehrer vertraten folgenden
Standpunkt: Ein voll angezogenes Mädchen, das nicht zweimal durchs
ganze Becken schwimmen konnte, gab sich keine Mühe. Eins musste
man solchen Lehrmethoden lassen: Als Susanne das Internat verließ,
kannte sie vier Schwimmstile sowie mehrere Lebensrettungsmethoden
und fühlte sich im Wasser wie zu Hause. Sie wusste auch, was es zu tun galt, wenn man in unmittelbarer Nähe eines Nilpferds schwamm – in
solchen Fällen schwamm man besser davon. Nur aus einem gewissen
Abstand betrachtet sind Nilpferde groß und knuddelig. Aus der Nähe
gesehen sind sie vor allem groß.
Susanne griff auf das ererbte Talent der tödlichen Stimme zurück und fügte ihm schreckliche Klassenzimmer-Autorität hinzu.
»VERSCHWINDE!«, rief sie.
Das Nilpferd strampelte heftig in dem Bemühen, sich umzudrehen und
so schnell wie möglich einen anderen Ort aufzusuchen. Susanne
schwamm zum Ufer, einem Ufer, das seiner Sache nicht ganz sicher zu
sein schien: In einem Durcheinander aus Sandbänken, saugendem
schwarzen Schlamm, vermodernden Baumwurzeln und Sumpf ging das
Wasser in Land über. Insekten summten, und…
… das Kopfsteinpflaster war verschlammt, und im Dunst erklangen
die Geräusche von Reitern…
… und Eis reichte an abgestorbenen Bäumen empor…
… und Lobsang griff nach Susannes Arm.
»Ich habe dich gefunden«, sagte er.
»Du hast die Geschichte zertrümmert«, sagte sie. »Die historischen
Strukturen sind zerbrochen !«
Das Nilpferd war ein ziemlicher Schock gewesen. Sie hatte es nie für möglich gehalten, dass ein Mund so schlecht riechen und so groß und
tief sein konnte.
»Ich weiß. Mir blieb keine Wahl. Es musste auf diese Weise geschehen.
Kannst du Lu-Tze lokalisieren? Ich weiß, dass Tod imstande ist, jedes lebende Wesen zu finden, und da du…«
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»Schon gut, schon gut, ich weiß«, sagte Susanne finster. Sie streckte die Hand aus und konzentrierte
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