Der Zeitdieb
als gewöhnliche Sprache.
»Sollten wir nicht die Welt retten?«, fragte Susanne. »Ich möchte
natürlich niemanden drängen…«
»Zuerst gilt es noch etwas anderes zu erledigen«, sagte Lobsang. »Ich muss meiner Mutter begegnen.«
»Haben wir genug Ze…«, begann Susanne und fügte hinzu: »Ja, wir
haben genug Zeit. Alle Zeit der Welt.«
»O nein«, widersprach Wen. »Wir haben noch viel mehr Zeit. Es gibt
immer Zeit genug, die Welt zu retten.«
Zeit erschien. Erneut entstand der Eindruck, dass eine vage,
substanzlose Gestalt in der Luft zu Millionen von Flöckchen
kondensierte, die einander entgegenstrebten, langsam und dann immer
schneller, um einen Körper zu formen. Plötzlich stand dort jemand.
Sie war eine große Frau, recht jung und dunkelhaarig, gekleidet in
langes, rotschwarzes Haar. Gewisse Anzeichen in ihrem Gesicht
verrieten, dass sie geweint hatte. Aber jetzt lächelte sie.
Wen griff nach Susannes Arm und nahm sie behutsam beiseite.
»Sie wollen miteinander reden«, sagte er. »Was hältst du von einem
kleinen Spaziergang?«
Der Raum verschwand. Susanne fand sich in einem Garten wieder, mit
Pfauen, Springbrunnen und einer steinernen Sitzbank, auf der Moos ein dickes Polster bildete.
Weite Rasenflächen neigten sich einem Waldland entgegen. Er
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erweckte den manikürten Eindruck eines Anwesens, auf dem nach
Jahrhunderten hingebungsvoller Pflege nichts Unerwünschtes oder am
falschen Platz wuchs. Vögel mit langen Schwänzen und bunt
schillernden Gefiedern flogen von Wipfel zu Wipfel. Tiefer im Wald
zwitscherten andere Vögel.
Susanne beobachtete, wie sich ein Eisvogel am Rand eines
Springbrunnens niederließ. Er sah kurz zu ihr und flog davon; seine
Flügelschläge hörten sich an wie das Zuschnappen von Fächern.
»Hör mal, ich…« Susanne suchte nach den richtigen Worten. »Ich
bin… Äh, ich meine, ich bin nicht… Ich verstehe so etwas. Wirklich. Ich bin nicht dumm. Mein Großvater hat einen Garten, in dem alles schwarz ist. Aber, Lobsang hat die Uhr gebaut! Oder zumindest ein Teil von ihm.
Er rettet also die Welt und zerstört sie gleichzeitig?«
»Es liegt in der Familie«, sagte Wen. »Die Zeit macht das in jedem
Augenblick.«
Er sah Susanne wie ein Lehrer an, der es mit einem zwar lernwilligen, aber dummen Schüler zu tun hat.
»Denk so«, sagte er schließlich. »Denk an alles. Es ist ein ganz gewöhnliches Wort. Aber ›alles‹ bedeutet… alles. Es ist ein viel größeres Wort als ›Universum‹. Und alles enthält alle möglichen Dinge, die zu allen möglichen Zeiten auf allen möglichen Welten passieren können.
Such auf keiner von ihnen nach einer kompletten Lösung. Früher oder
später verursacht alles alles andere.«
»Willst du damit sagen, eine kleine Welt sei nicht weiter wichtig?«, fragte Susanne.
Wen winkte, und zwei Weingläser erschienen auf dem Stein.
»Alles ist genauso wichtig wie alles andere«, sagte er.
Susanne verzog das Gesicht. »Deshalb habe ich Philosophen nie
gemocht. Sie lassen alles grandios und einfach klingen, und dann tritt man hinaus in eine Welt voller Komplikationen. Sieh dich um. Ich wette, in diesem Garten muss man regelmäßig Unkraut jäten, und die
Springbrunnen verstopfen gelegentlich, und die Pfauen verlieren Federn und graben Löcher in den Rasen… Und wenn so etwas nicht geschieht,
ist dies eine Imitation.«
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»Oh, alles ist real«, sagte Wen. »Zumindest so real wie alles andere.
Aber dies ist ein perfekter Moment.« Er lächelte erneut. »Gegen einen perfekten Moment kämpfen die Jahrhunderte vergeblich an.«
»Mir ist eine bestimmtere Philosophie lieber«, sagte Susanne. Sie
probierte den Wein. Er schmeckte köstlich.
»Natürlich. Das habe ich von dir erwartet. Du klammerst dich so an
Logik fest wie eine Napfschnecke an einen Stein. Mal sehen… Verteidige die kleinen Freiräume, laufe nie mit einer Schere und denke daran, dass es unerwartete Schokolade geben kann.« Wen lächelte noch immer. »Und widersetze dich nie einem perfekten Moment.«
Eine Brise ließ den Springbrunnen über den Rand der Schalen
plätschern, nur für eine Sekunde. Wen stand auf.
»Ich glaube, Mutter und Sohn haben ihr Gespräch jetzt beendet«, sagte er.
Der Garten löste sich auf. Die steinerne Sitzbank zerschmolz zu
Dunst, kaum hatte sich Susanne erhoben, obwohl sie eben noch so fest wie… Stein gewesen war. Das Weinglas verschwand aus ihrer Hand. An
den Fingern blieb eine Erinnerung an den
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